Auf der Suche nach der verlorenen Identität

Béla Hamvas’ „Philosophie des Weins“, 1947 geschrieben, durfte bis zu seinem Tod in Ungarn nicht gedruckt werden. Heute gilt sie als Katechismus einer versunkenen Weinwelt

VON MARIO SCHEUERMANN

Im Sommer 1945 sitzt ein Mann auf einem Hügel bei Szigliget am Ufer des Balaton und träumt. Viel mehr als Träume sind ihm nicht geblieben. Im Bombenhagel der letzten Kriegstage hat er fast alles verloren. Seine Bibliothek, seine Manuskripte, seine Wohnung. Geblieben ist ihm die Freiheit der Gedanken. Bald wird man versuchen, ihm auch die zu nehmen.

Er nagt am Hungertuch. Wie alle Ungarn. Die Tagesration: ein Stück Brot, eine Zwiebel, Wasser. Wenn Wein, dann nur vom allerschlechtesten. Aus der Erinnerung notiert er Getränke und Speisen – ohne reale Aussicht, diese Köstlichkeiten jemals wieder genießen zu können. Das hält ihn am Leben.

Es ist ein Idyll, das er für seine Meditationen gewählt hat. Damals wie heute ist die Region eine beliebte Sommerfrische. Über die schilfbedeckten Dächer der Bauernhäuser, die sich in die grüne Flanke des Berges ducken, schweift der Blick zum See. Der Burgberg ist ein geschichtsträchtiger Platz. Seit der Bronzezeit bewohnt und in den Türkenkriegen eine der wenigen Bastionen, die nicht von osmanischen Truppen eingenommen werden konnten. Das macht ihn für Ungarn zu einem sakralen Ort.

Vor dem Krieg war Béla Hamvas (1897–1968), so der Name des Träumers, ein berühmter Autor. Denker, Philosoph, Essayist, Novellist, Kritiker und Romancier. Jetzt, 1945, kümmert er sich als Redakteur um die „Kleinen Hefte der Universitätsdruckerei“. Als er zwei Jahre später an den Balaton zurückkehrt, um seine weinseligen Gedanken von damals niederzuschreiben, schreibt er bereits für die Schublade. Er wird es für den Rest seines Leben tun.

Im Jahr 1948 verliert er auch seinen Brotjob als Bibliothekar in Budapest. Auslöser ist die Kritik seines linientreuen, gerade aus Moskau zurückgekehrten Kollegen Georg Lukács, in dem er eigentlich einen potenziellen Mitstreiter gesehen hatte. Ein Text über „Abstraktion und Surrealismus in Ungarn“ wurde ihm zum Verhängnis. Er wird von der kommunistischen Zensur auf die „B“-Liste gesetzt. Das bedeutet: Zwangspensionierung. Für Béla Hamvas beginnt eine klägliche Odyssee. Bis zur kargen Rente muss er sich als Landarbeiter, Lagerverwalter und Hilfsarbeiter durchschlagen. Aber er hört nie auf, zu schreiben, zu übersetzen, zu philosophieren.

Als er am 7. November 1968 stirbt, hinterlässt er zehntausende von unveröffentlichten Manuskriptseiten: Romane, Essays, Kommentare, Übersetzungen, Studien. So wie seine „Philosophie des Weins“, die er in der Nachkriegszeit in Szigliget gedacht und niedergeschrieben hatte. Schon bald kursiert sie als Typoskript und handschriftliche Kopie. Heute wird das schmale Bändchen, in zahlreiche Sprachen übersetzt, weit über die Landesgrenzen Ungarns hinaus als Offenbarung gelesen.

Dem Buch vorangestellt hat Hamvas die Feststellung: „Zwei bleiben schließlich übrig, Gott und der Wein.“ Diesen Satz kennt in Ungarn heute fast jeder – egal ob er Wein, Bier oder Schnaps trinkt. Diese Worte werden auch als Kryptogramm verstanden für das Überleben in der Diktatur, die nur von außen betrachtet ein Gulaschkommunismus war. In Wahrheit war es ein die Menschen verachtendes System, das zertrümmerte Seelen und vernichtete Existenzen hinterließ, nicht geschriebene Bücher, nicht komponierte Musik, nicht gemalte Bilder, nicht gedachte Gedanken.

Man kann dieses Buch auf mancherlei Art lesen. Als politisches Pamphlet, als satirischen Essay, als gläubiges Manifest oder als „Seelenführer“ (László Földényi). Vor allem aber ist es ein Wegweiser in die versunkene Weinwelt des alten Mitteleuropa. Die war schon lange vorher untergegangen. Nach dem Frieden von Trianon, unterzeichnet im Juni 1920. Da wurde bereits alles auseinander gerissen, was einst zusammengehörte. Über Nacht erhielt Europa 18.000 Kilometer neue Grenzen. Ungarn verlor fast drei Viertel seines Territoriums und der Kontinent seine Mitte. Die Suche nach der verlorenen Identität ist für Hamvas der rote Faden seines Denkens und Schaffens. Die „Philosophie des Weins“ ist eine berauschte Vision von der Einheit des Menschen mit seinem Sein und Schicksal. „Jede Philosophie“, so Hamvas, „ist ein Versuch, den Sinn wiederherzustellen.“

Die europäische Zivilisation, so sein Credo, kann ihre Kraft nur aus den Wurzeln vor allem der griechischen Antike und den uralten heiligen Überlieferungen (wieder)gewinnen, wie sie der Wein aus den Schichten seines Terroirs saugt. Weine sind Projektionen aus einer anderen Dimension. In Edelsteinen, so Hamvas, ist die spirituelle Essenz kristallisiert, in den Weinen ist sie gelöst. „Sie sind Offenbarungen des einzigen Einen. Doch jede ist eine andere spirituelle Essenz des Einen.“

Hamvas ist einer der letzten humanistischen Universalisten des 20. Jahrhunderts. Er hat die bedeutendsten heiligen Schriften versunkener Kulturen in die ungarische Sprache übersetzt, angefangen von den Upanischaden bis zu den Henoch-Apogryphen. In den mythologischen Wurzeln seines Denkens nähert er sich auf wundersame Weise einem anderen zeitgenössischen Weinphilosophen und Prediger des Hedonismus, dem französischen Phänomenologen Michel Onfray.

Denn die „Masken“, die Hamvas im Wein erkennt, sind nichts anderes als die „Formen der Zeit“ bei Onfray. „Denn ein Wein“, so Onfray, „der dieses Namens würdig ist, ist die Quintessenz triumphierender Freuden, die allein die Existenz erträglich machen. Bevor er zu Trunkenheit und Rausch führt, verursacht er einen Taumel, der das Zeichen einer gelungen Gemeinschaft eines Ichs mit sich selbst und mit den anderen ist.“

So weit die Theorie. Was die konkreten Weine betrifft, beschreibt Hamvas vieles, was uns heute nicht mehr zugänglich ist. Die meisten dieser Weine wie die „alten Schomlauer“ sind mit dem Untergang der k. u. k. Monarchie wohl unwiederbringlich verloren. Dieses „Getränk der Einsamen“ gibt es heute nicht mehr.

Manchmal, wenn ich Rieslinge des deutschen Winzers Reinhard Löwenstein trinke, denke ich: So könnten sie geschmeckt haben. Der Uhlen, der Röttgen, geprägt von einer geheimnisvollen Erdhaftigkeit, vielschichtig wie die Terrassen, die Klüfte, die steinernen Orgeln, die hier an der Mosel wie dort in Somló (Schomlau) die Landschaft formen, ihr Charakter verleihen. Hamvas hat sie beschrieben. Diese Weine sind „so voll des Öles des Schöpfungsrausches, dass sie nur in angemessen versunkener, endgültig besänftigter, ausgeglichener Einsamkeit getrunken werden dürfen“.

Die Wahl eines Weins ist für Hamvas ganz situationsbedingt. Für ihn gibt es „Faulenzerweine, koketten Wein, gesprächigen Wein, tragischen Wein“. Er schreibt: „Von größter Gefühllosigkeit zeugt es beispielsweise, bei einem gemütlichen Familienessen dramatischen Wein zu trinken.“ Wann trinken? Wie trinken? Wo trinken? Und vor allem: Wozu trinken? Das sind die Fragen, die er immer wieder fantasievoll variiert. Dennoch wirken seine Weinmeditationen zeitlos, können für den, der sich auf sie einlässt, Wegweiser sein, die eigenen Wein-Traumpfade zu finden.

Oft frage ich mich: Wäre dies für Hamvas ein Hochzeits- oder ein Venuswein gewesen, ein Zwei-mal-zwei-ist-vier-Wein, ein Freundschafts- oder ein Ehewein? Oder ein Kavalierswein? Das waren für ihn die Weine aus Villány: „elegant, maßvoll, vornehm, wohlerzogen“. Wir wissen nicht konkret, welche er so sehr schätzte, den weißen Riesling oder den roten Burgunder. Dies waren jedenfalls vor dem Krieg die teuersten und vornehmsten Weine aus den berühmten Weingärten von Château Teleki. Ich glaube aber zu erkennen, dass sich der Winzer Attila Gere aus Villány mit seinem roten „Solus“ diesem Ideal bereits wieder genähert hat. Zu diesem Merlot passen die Hamvas-Sätze: „Ich meinerseits würde bei Bällen nur Villányer ausschenken. Der Villáyner entfaltet alle seine Vorteile, wenn du dich frisch gebadet, rasiert, von Kopf bis Sohle umgezogen hast. Am besten trägst du Frack oder Smoking, als Dame ein Dekolleté.“

Nur wenige Autoren der Weltliteratur kamen schreibend dem geheimen Wesen des Weins so nahe wie Béla Hamvas auf diesen knapp 70 Seiten. Trinkend mögen viele diesen Weg gegangen sein, aber nach dem Rausch das Erlebte zu formulieren, dazu fehlte ihnen dann der Sinn. Man muss schon auf Ovid und seine „Metamorphosen“ zurückgreifen oder auf den mittelalterlichen Vagantendichter Archipoeta, um eine ähnlich kraftvolle Sprache zu finden, die Wein als Medium für die Wandlung der Welt beschreibt. Und deren aller Vorbild ist der Enkidu-Mythos aus dem Gilgamesch-Epos. Dort wird erzählt, wie der Tiermensch Enkidu in der nicht nur sexuellen Begegnung mit einer Tempeldienerin zivilisiert wird: „ ‚Iss das Brot, Enkidu, das gehört zum Leben! / Trink den Rauschtrank, wie’s Brauch ist im Lande!‘ / Brot aß Enkidu, bis er gesättigt war, / Trank den Rauschtrank – der Krüge sieben! / Frei ward sein Inneres und heiter, / Es frohlockte sein Herz, und sein Antlitz erstrahlte! / Mit Wasser wusch er ab seinen haarigen Leib: / Er salbte sich mit Öl und wurde dadurch ein Mensch.“

Nun war das berauschende Getränk der Sumerer nach den neuesten Erkenntnissen der Assyriologen kein Wein (karanu), sondern ein Bier (sikaru). Bei Hamvas liest sich die moderne Version so: „Ihr seid nervös und egoistisch, abstrakt und unglücklich, weil ihr nicht rein seid für die große Illumination. Wein! Wieder sage ich nur: Trinkt Wein! Dann werdet ihr schon Lust bekommen zum Küssen, zum Blumenpflücken, zur Freundschaft, zum guten, tiefen Schlafen, zum Lachen, und statt der Zeitung werdet ihr am Morgen Dichter lesen.“

Außer der „Philosophie des Weins“ sind von Béla Hamvas in deutscher Übersetzung nur einige kleine Essays erschienen. 2007 soll im Verlag Matthes & Seitz ein weiterer Essayband herauskommen. Derzeit übersetzt Karlheinz Schweitzer in Budapest die sechsbändige „Scientia Sacra“, und in Hamburg hat sich um den dort lebenden ungarischen Filmemacher Gábor Altorjay eine Gruppe gebildet, die mit einer ungewöhnlichen Onlinesubskription versucht, das Mammutwerk der Übersetzung von „Karneval“ zu bewältigen. Unter www.hamvaskarneval .mediatransform.de kann sich jeder an der Förderung der Übersetzung beteiligen MARIO SCHEUERMANN, Jahrgang 1948, hat zahlreiche Bücher und Essays über Genuss und Wein veröffentlicht. Er lebt in Hamburg und Odórfa (Ungarn) und führt ein preisgekröntes Internet-Tagebuch: http://drinktank.blogg.de