Saisonarbeit im Dunkeln

Jedes Jahr zieht es Asylbewerber aus ganz Deutschland in ein kleines Flüchtlingslager auf Sylt. Der Sommer verspricht Arbeit für ein paar Wochen. Da die meisten in anderen Bundesländern gemeldet sind, hat ihnen das Amt jetzt den Strom abgestellt.

von Lucas Vogelsang

Hinter dem alten Tower, auf dem Flughafen von Westerland, wo die Hitze den Asphalt verschwimmen lässt, landen bunte Ferienflieger. Lufthansa, DBA oder Hapag Lloyd bringen Touristen und Prominenz nach Sylt. Im Schatten des früheren Kontrollturms, keine zwei Kilometer von der Strandpromenade entfernt, liegt ein Stück Sylt, das nichts mit Glamour und Matjesfilet gemein hat und das kaum jemand kennt.

Ein Fremdkörper aus Wellblech, versteckt hinter Sträuchern und einem meterhohen Metallzaun. Zwei flache, weiße Container bilden rund um die ehemalige Landebahn ein Flüchtlingslager. Mit jeweils zehn Schlafräumen und einer Gemeinschaftsküche zählten sie damals zu den Deluxeversionen unter den Behelfsunterkünften. Heute sind sie heruntergekommen, verwohnt. Über vierzig Grad im Schatten haben die staubige Luft getrocknet. Dutzende Fahrräder und Autos ohne Nummernschilder stehen auf dem schmalen Weg. Fernsehapparate mit verbogenen Antennen, Waschmaschinen liegen im Dreck, dienen als Ablagen für Autoreifen und Radios. Ein großer schwarzer Mann in langem, weißem Gewand sitzt auf einer zerschlissenen Wohnzimmercouch vor einer der Baracken. Jamal aus Togo ist 23 und wohnt seit fünf Jahren auf Sylt. Er ist einer der Flüchtlinge aus Afrika und dem mittleren Osten, denen die Ausländerbehörde vor mehr als acht Jahren diese zweihundert Quadratmeter nordfriesisches Ödland zugewiesen hat. Zur Einweihung der damals noch glänzend neuen Container waren es zwanzig Männer gewesen, nach der Aussiebung durch das Asylverfahren sind offiziell noch acht übrig geblieben. Im Innern der Unterkünfte leben weit mehr als diese Acht. Neben der Gemeinschaftsküche füllen Kisten die Zimmer bis unter die Decke. Immer wieder schauen neue Gesichter aus den eigentlich leer stehenden Schlafräumen. Die meisten sind angeblich „nur kurz zu Besuch“. Doch schon nach kurzer Zeit wird klar, dass sie nicht nur für einen Kurzurlaub auf Sylt sind. Es ist Sommer an der Nordsee. Tourismus-Hochzeit.

Die saisonale Mono-Industrie lockt Geduldete aus dem ganzen Land nach Westerland, um am Strand, in Restaurant oder Hotels zu arbeiten. Von McDonald’s bis zum Fischbrötchen-Stand auf der Promenade, als Koch, als Kellner, als Putzkraft. Auf dem Eiland gibt es zwischen Mai und Oktober in der Regel genug Arbeit für alle. Und so gleicht das Lager um die Mittagszeit und kurz vor achtzehn Uhr einem Taubenschlag. Auf Fahrrädern und zu Fuß kommen und gehen die Männer aus Liberia, Togo, Ghana oder Sierra Leone.

Seit Anfang des Monats ist die Sommer-Laune der Männer jedoch getrübt. Der Grund dafür hängt gut sichtbar über Jamals Kopf neben der Eingangstür: ein weißer Zettel im DIN A3-Format. Auf Englisch und Deutsch ist dort unmissverständlich zu lesen, dass die Stromversorgung eingestellt wird und die Container in nächster Zeit abgebrochen werden. Alle Bewohner seien aufgerufen, sich eine neue Bleibe zu suchen. Unmittelbar nach dieser Warnung hat das Ordnungsamt Sylt-Ost den Männern den Strom abgestellt. Seitdem leben Jamal und die anderen ohne Licht und Kühlschrank. Jamal schüttelt den Kopf: „Wir kauen auf trocken Brot rum.“ Alle anderen Nahrungsmittel mussten sie wegwerfen, da sie keine Möglichkeit mehr hatten, Fleisch, Käse oder Milch kühl zu lagern. Warmes Essen holen sie sich in einem Imbiss, der einige hundert Meter die Straße runter Döner und Currywurst verkauft. Oder sie kochen mit Campinggaskochern. Dan, 25, aus Nigeria, kommt aus dem Container. „Wenn ich abends von der Arbeit komme, muss ich alles im Dunkeln finden. ich kann nicht waschen. Das ist doch Deutschland! Wie kann hier so etwas passieren?“, sagt er. Um Mitternacht versammeln sich die Männer vor den Baracken um die alte Couch und unterhalten sich im Dämmerlicht der Straßenlaternen. Dann machen sie ihrem Ärger und ihrer Verzweiflung Luft. Dan erklärt gestenreich, dass die Ungewissheit am schlimmsten ist. Niemand weiß, wann die Abrissbirne kommt oder warum der Strom abgestellt wurde.

Hans-Wilhelm Hansen von der Ordnungsbehörde Sylt-Ost verweist auf den maroden Zustand der Leitungen und die damit verbundene Feuergefahr. „Wir standen vor der Entscheidung: entweder Strom aus oder die verbrennen uns über kurz oder lang.“ Offiziell will man ein zweites Halberstadt verhindern. Im Dezember 2005 waren dort neun Menschen einem Feuer in einem Obdachlosenheim zum Opfer gefallen. Doch schnell wird deutlich, dass der eigentliche Grund für den Energiestopp die schwankende Bewohnerzahl des Lagers und Sylts attraktive Arbeitsangebote im Sommer sind. Der Behörde ist die Kontrolle über das Lager schon vor langer Zeit entglitten. Um diese wieder zu erlangen, haben sie in Westerland nun ein Zeichen gegen die, laut Hansen, „ruinöse und illegale Nutzung des Flüchtlingscamps“ setzen wollen. Am Alten Tower sei ein rechtsfreier Raum entstanden. „Die haben da Stromanschlüsse manipuliert und Lagerräume eingerichtet“, sagt Hansen. Insbesondere die starke Fluktuation von Asylsuchenden, die in anderen Bundesländern gemeldet sind, wollte die Behörde irgendwie in den Griff bekommen. Hansen muss schließlich zugeben: „Mit der Aktion wollten wir vorrangig die treffen, die hier nicht gemeldet sind.“

Jamal und die anderen sieben Asylbewerber, für die Hansen zuständig ist, bekommen in nächster Zeit neue Wohnungen zugewiesen. Der Rest muss Sylt verlassen und in sein Bundesland zurückkehren. Mitten in der Hochsaison. Bei den Bewohnern bleiben Unverständnis und Zorn darüber, dass sie wochenlang in dem Zustand einer nahezu mittelalterlicher Versorgungslage gelassen wurden. Jamal ist enttäuscht. Obwohl er bleiben darf. „Schließlich ist der Container nach fünf Jahren so etwas wie mein zu Hause geworden.“