Die Nummer eins

Pharrell Williams ist der einflussreichste Produzent im Pop der letzten Jahre. Zahllose Künstler hat er berühmt gemacht. Mit dem Album „In My Mind“ erscheint nun nach langen Verzögerungen sein Solo-Debüt

VON UH-YOUNG KIM

Mit über einem halben Jahr Verspätung wird heute der Vorhang für Pharrell Williams’ Debüt gelüftet. Schon im Dezember 2005 sollte „In My Mind“ (Virgin) erscheinen, aber der vielleicht einflussreichste Produzent heutiger Popmusik fand, die Zeit sei nicht reif gewesen, um als Solo-Interpret durchzustarten, und zog das Album kurzerhand zurück. Nach dem verfrühten Hype und weiteren Aufschüben geronn der Veröffentlichungstermin zum Running Gag.

Nun, da es so weit ist, droht der Backlash für das Gesicht der Neptunes – jenes Produzentenduos, das das kommerzielle Radioprogramm in den letzten acht Jahren mit etlichen R’n’B/Hiphop-Hits wieder aufregend gemacht hat. Ohne Anschluss an ein Produkt hat sich das kurze Zeitfenster der popkulturellen Aufmerksamkeit längst wieder geschlossen. Zudem kommt, dass man beim ersten gierigen Hören der Stücke vergeblich auf die radikale Qualität wartet, mit der Pharrell Straßenrapfans und Pop-Intellektuelle noch unter dem trockenen Schnalzgroove des Snoop-Dogg-Stücks „Drop It Like It’s Hot“ vereinte.

Schönheit und Experiment

Dabei sind relativ drastische Soundexperimente nur ein Moment in der Produktionsdialektik des aus Virginia Beach stammenden 33-jährigen Williams. Geprägt vom rohen New Yorker Hiphop der frühen Run DMC, eines DJ Premier oder Wu Tang-Clans überrascht er immer wieder mit für Pop-Standards kompromisslosen Tracks. Von synthetischen, eher dem Electro/Techno-Kontext zuzuordnenden Figuren wird dabei der zuweilen afrofuturistische Antrieb seiner entbeinten Beats angefeuert. Auf der anderen Seite verfolgt Pharrell eine Ästhetik der absoluten Schönheit, wie z. B. im astreinen Poptitel „Beautiful“: Makellos fließen dort erhebende Melodien und zwingende Refrains durch lichtdurchflutete dreieinhalb Minuten Wohlbefinden.

In seinen besten Stücken sind Hardcore-Vibe und zuckersüße Leichtigkeit gleichzeitig präsent. Als Ikone der Popkultur überschreitet Pharrell dadurch auch Gegensätze in der Topologie urbaner Identitäten: Er ist der millionenschwere Player und der schmachtende Softie, der toughe Skateboard P. aus den Suburbs und der Posterboy der neuen Louis-Vuitton-Kampagne, das scheue Musikgenie und der abgebrühte Geschäftsmann.

Auf „In My Mind“ allerdings hat Pharrell die Synthese aus Härte und Sanftheit fein säuberlich getrennt: Auf sieben Rapstücke folgen sieben R’n’B-Songs. Die rockistischen Ansätze seiner Band N.E.R.D. fehlen diesmal gänzlich; nach zwei kommerziell enttäuschenden Alben war klar, dass ihr Anspruch auf künstlerische Freiheit und musikalische Grenzüberschreitung den Mainstream schlicht überfordert. Nun ist Pharrell auf den Superstarmoment aus, zu dem er im Hintergrund schon Kelis, Britney Spears, Justin Timberlake, Jay-Z oder Gwen Stefani verholfen hat. Und welches Feld ist dafür besser geeignet als das platinumbesetzte Terrain des R’n’B/Hiphop, auf dem er sich schon so lange mit schlafwandlerisch sicherem Hitgespür bewegt?

Besonders mit dem zweiten Teil des Albums aber könnte die hiesige Rezeption ihre Probleme haben. Als ob es sich um den Soundtrack der „Romeo und Julia“-Werbung von H&M handelte, kurisieren Attribute wie „schmierig“ in ersten Rezensionen einer in der zyklischen Geschichte afroamerikanischer Musik unbeleckten Kritik – sei es weil sie ihre Rockscheuklappen nicht ablegen kann, bloß auf Spektakel aus ist oder erst mit Eminem ihr Hiphop-Erweckungserlebnis hatte. Statt sich um Zugang zum musikalischen Kontinuum Pharrells zu bemühen, erschöpft sich ihr Verständnis bei gefühlten Ähnlichkeiten mit Prince, Michael Jackson und Stevie Wonder. Oder man zieht sich gleich darauf zurück, die Warensynergie der Marke Pharrell aufzudröseln – von der Streetwear-Kollektion über Sneakers bis zur eigenen Restaurantkette.

Dabei zählen gerade die R’n’B-Songs zu den Glanzstücken auf „In My Mind“. Nachdem im Rapteil die grundlegenden Aspekte von Hiphop, wie Einfachheit, Flow, Wortwitz, ein paar reflexive Ansichten und vor allem die offensive Selbstbehauptung des erreichten Status, solide gemeistert worden sind, schwingt sich Pharrell zur Kür seiner bisherigen Karriere auf. Nach Jahren der Spekulation offenbart sich sein Erfolgsgeheimnis quasi auf dem Silbertablett, auf einmal lässt sich der Mythos um den enigmatischen Künstler in einen historisch schlüssigen Rahmen einbetten. Pharrell ist mit seinem Style nämlich nicht so einfach vom Himmel gefallen.

Was sich etwa in der Single „Number One“ Bahn bricht, ist die Wiederkehr von New Jack Swing. In Teddy Riley – dem Erfinder und Mastermind dieses kurzlebigen und längst vergessenen Post-Soul-Genres, das von Ende der Achtziger- bis Mitte der Neunzigerjahre die Popmusik beherrschte – hat Pharrell seinen Entdecker und Produzentenvater gefunden. Den in Harlem geborenen Komponisten für z. B. Michael Jackson zog es nach Massenerfolgen in die Abgeschiedenheit des Küstenstädtchens Virginia Beach. Gleich neben Pharrells High School befand sich sein Studio, das mittlerweile die Neptunes übernommen haben. So wie Royal Bayyan von Kool & The Gang ihn einst protegierte, nahm Riley den damals gerade volljährigen Pharrell unter seine Fittiche.

New Jack Swing als DNA

Mit Keith Sweat sowie den eigenen Gruppen Guy und Blackstreet vollzog Riley erstmals die Vermählung der damals noch getrennten Welten des R’n’B und Hiphop – ohne die heutzutage kein internationaler Charterfolg mehr auskommt. Er kombinierte die Produktionstechniken der Rapszene mit populärem Soul. Während die auch Swingbeat genannte Musik relativ zahm und glatt war, gaben sich ihre Stars wie Bobby Brown oder Janet Jackson streetwise und reif. Es galt, sich von den Teeniegruppen zu emanzipieren, aus denen sie teilweise stammten. Im Geiste des Hiphop traten sie provokant, emotional und vor allem sexuell aufgeladen auf.

New Jack Swing bildet die musikalische DNA des Stils, mit dem sich die Neptunes vom gängigen Hiphop-Sound absetzten: Samples werden nicht wie damals üblich als Loop eingesetzt, sondern als musikalische Interpunktion auf ihre Essenz reduziert und variiert. Der unersättlich synthetische Modus des New Jack Swing manifestiert sich dabei in unbearbeiteten Sounds direkt aus der Maschine. Gerade dieser billig wirkende Klang macht den naiven Charme der Tracks aus und verweist darauf, dass die Musik zuerst von 19-Jährigen im Schlafzimmer produziert wurde. Aufgrund des Erfolgsdrucks durch hochdotierte Plattenverträge entwickelte sich der Sound später hin zu einem aseptischen, luftleeren Klangbild, wie es bis heute kommerzielle R’n’B-Produktionen auszeichnet.

In Pharrells neuen Songs sind die Merkmale des New Jack Swing um ein Vielfaches verstärkt. Die Snare schlägt noch härter zu, die Höhen sind crisper und die Bässe schwerer. In der Ballade „Take It Off (Dim The Lights)“ werden die genretypischen Synthesizer-Texturen und klirrenden Percussions über anschwellende Streicherpassagen und gecroonte Liebeserklärungen zum klanglichen Klimax aufgetürmt. Die dadurch intensivierte Körperlichkeit drückt sich auch in den Songtexten aus, wenn Pharrell sexuelle Anspielungen explizit macht, indem er die erogenen Zonen einer Frau detailliert besingt oder gar mit dem Tabu von Sex mit Minderjährigen spielt. Überhaupt geht es viel um romantisches Vorspiel und heiße Nächte.

In den dabei bemühten stereotypen Geschlechterverhältnissen hallt noch heute die zutiefst reaktionäre Ideologie des New Jack Swing nach. Anders als Soul oder Rap entsprang die Musik nicht aus den Zusammenhängen einer lokalen Community, die Vielfalt oder eine soziale Verantwortung hätte einfordern können. In relativer Abgeschiedenheit zu den großen Musikzentren ging es Teddy Riley von Anfang an darum, mit Blick auf die Charts im großen Stil Geld zu verdienen – einer der größten Hits der Ära hieß „Just Got Paid“.

Ghostwriter liefern Beats

New Jack Swing kann dabei als Griff des Produzenten nach mehr Macht angesehen werden. Die Übernahme von jahrzehntealten Strukturen im Musikgeschäft durch aufsässige, aber kommerziell ambitionierte Kids nahm so ihren Anfang. Hierfür installierte Teddy Riley ein am Produzenten orientiertes System. Dieses lehnt sich an die Hitfabrik Motown und ihre Einheiten aus Fließbandkomponisten an. Durch Pharrell, die Neptunes, Timbaland und Rodney Jerkins – allesamt Rileys Schüler –, aber auch Hiphop-Mogule wie P. Diddy, Jay-Z und Dr. Dre setzt es sich fort. Erst durch Teddy Rileys Geschäftsmodell konnte der Produzent zur Supermacht im Popgeschäft aufsteigen, die Star, Songschreiber, CEO und Marke in einem ist.

Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass Beats von Dr. Dre oder Timbaland oft gar nicht mehr von ihnen selbst stammen. Ein Schwarm von Ghostwritern sorgt für konstanten Nachschub, den ein Einzelner unmöglich bewältigen kann. Es ist gang und gäbe, dass Lakaien die Fürstentümer des Hiphop-Adels verwalten und erweitern – bis sie selbst zum Zuge kommen. Pharrell hat als Rileys anonymer Studiogehilfe z. B. den Wrecks-N-Effect-Hit „Rumpshaker“ geschrieben.

Mitte der Neunzigerjahre kollabierte der New Jack Swing unter dem Druck der eigenen hyperkapitalistischen Bedingungen. Ein Überangebot, die Austauschbarkeit der Acts und rechtliche Streitigkeiten gaben dem Genre den Todesstoß, während die Popmusik die brauchbaren Teile kannibalisierte und Gangsta-Rap an die Stelle des sang- und klanglos entsorgten Leichnams trat. Derweil überholten die Lehrlinge den Übervater Riley an Innovationen und vergossen keine Träne über den leisen Abstieg ihres einstigen Ausbeuters in die Bedeutungslosigkeit.

Auch wenn Riley bis heute vergeblich wartet, dass Pharrell ihn zu einem gemeinsamen Song einlädt, blüht sein Sound nun unerwartet und mit größerer Durchschlagkraft durch seinen aufmerksamsten Ziehsohn wieder auf. Der arbeitet auf seinem Album lieber mit aktuellen Topstars wie Gwen Stefani, Snoop Dogg oder Kanye West. So, wie es sein Meister ihn gelehrt hat.