Schlechte Neuigkeiten

Wie die Windpocken verbreitet es sich neuerdings im allgemeinen Sprachgebrauch das Wörtchen „neo“. Neu ist diese Erkenntnis nicht, doch ermöglicht sie trotzdem Einblicke in den Lauf der Dinge

von HELMUT HÖGE

Es gibt die fünf Neuen Länder, die Neuen Russen, den Kampf zwischen Alten und Neuen Armeniern, den Neonomadismus, den Neoliberalismus (eng verbunden mit dem Neodarwinismus), den von Georg Seeßlen kreierten Neosex, die von der taz entdeckten Neospießer, einen messianischen „Matrix“-Filmhelden namens Neo, die Neue Armut, den Neumillionär Neo Rauch, eine neue Arbeitsmoral, die Neozapatistas, die Neue Weltmacht China, die Neocons, einen Neokonfuzianismus, jede Menge neudeutsche Anglizismen und andere Neologismen, Neofolk-Musik, den Neoplasticism, die Neoisten, Neoludditen, japanischen NeoPunk, Halstabletten namens „Neo-Angin“, die Platten der Düsseldorfer Krautrock-Pioniere Neu! werden wieder aufgelegt, und selbst in einem Magazin mit dem Markennamen Neon verbirgt es sich, kurzum: Es gibt allein bei Google 71 Millionen Eintragungen für „neo“ und 120 Millionen mit „neu“.

Was ist passiert?

Warum sehen wir plötzlich alle ganz alt aus?

Die Antwort fand ich zu Ostern an der Fruchtbar einer westpolnischen „Wellnessfarm“ (98.900 Eintragungen) namens „Afrodyta“. Da meinte eine flotte Fünfzigjährige aus Fulda, die gerade eine preisgünstige „Schönheitsoperation“ (686.000 Eintragungen) in Tschechien über sich hatte ergehen lassen: „Bist du heute nicht mobil – biste morgen ein Fossil!“ Es ging ihr dabei ums Ganze – sie meinte „Den neuen Kapitalismus“, wie auch der Titel eines neuen Campus-Buchs von Thomas Hanke lautet. Denn der bringt uns angeblich alle auf Trab, der Kapitalismus. Auf alle Fälle schaukelt er sich langsam hoch ins Hysterische.

Den Eindruck machte jedenfalls das ganze brandneue Ambiente dort am Osnoer See auf mich. Und auch die geföhnte Fuldaerin. Dabei wird die Mobilität gerade von den Deutschen als etwas extrem Ungemütliches begriffen, besonders von den Ostdeutschen, von denen laut einer Umfrage 70 Prozent selbst im Falle einer drohenden Arbeitslosigkeit nicht ihren Wohnort wechseln würden. Da macht sich noch die sozialistische Errungenschaft Planwirtschaft bemerkbar, die überall da, wo sich DDR-Bürger immobilisierten, prompt ein oder mehrere VEB für sie hinstellte.

Nun geht es aber umgekehrt weiter: Das Kapital knallt irgendwo seine Fertigungsstätten hin – und die Menschen müssen ihnen folgen, notfalls in Wohnwagen. Das ist neu! Wie ebenso auch, dass die letzten (staatlichen) Planer langsam in eine ähnliche Position wie die Adligen am Ende des Feudalismus geraten: Sie werden parasitär und überflüssig. Die Parteien und die Politik sind nur noch gut für die darin/damit ihr Geld verdienenden – auf Kosten der Gesellschaft.

Über kurz oder lang werden wir uns diesen ganzen professionellen Politikscheiß einfach nicht mehr leisten können! Allein für den jährlichen Blumen-Etat des Auswärtigen Amts müsste ich fast tausend Jahre lang Steuern (75 Euro im Monat) zahlen! Und ein einziger dummer Besuch von Merkel in Washington oder von Bush in Stralsund lässt bereits ganze Landkreise verarmen.

Zu schweigen von den Sachbearbeiter-Heerscharen in den Arbeitsämtern, die gerade jene Millionen von Hartz-IV-Empfänger quälen, bespitzeln und demütigen, von denen allein sie leben. Das ist Neofeudalismus! Denn das Kapital hat sich transnational verflüchtigt, übrig bleiben die immobilen Alimentierten, die mit immer wahnwitzigeren „Projekten“ die Dialektik von Bleiben und Weichen zu ihren Gunsten auszuhebeln trachten – zunehmend verzweifelter. Auch das ist neu!

Aber dann schaltete sich an der Bar der greise, jedoch ebenfalls frisch geföhnte Ehemann der Fuldaerin ein: „Wo hast du denn den Spruch her?“, fragte er seine Frau. Das wusste sie nicht mehr. „Aber ich“, erwiderte er, „das war mal die alte Volkswagenwerbung – unter Adolf noch: ‚Wirst du heute nicht mobil – biste morgen ein Fossil!‘ Sie wurde dann zurückgenommen, weil VW erst mal für den Krieg produzieren musste.“

„War damals nicht auch alles neo? Ich meine, das Wort ‚neu‘ in aller Munde?“ fragte ich ihn.

„Und ob!“, bekam ich zur Antwort, „alles war plötzlich neu. Angefangen mit einer neuen Generation, einer neuen Zukunft, neue Werte, eine neue Arbeitsmoral usw. … das ist immer so vor einem neuen Weltkrieg.“

„Wollen Sie damit sagen, dass wir jetzt auch wieder vor einem neuen Weltkrieg stehen?“

„Wir befinden uns doch schon fast mittendrin“, meinte der Fuldaer beinahe fröhlich.

„Na dann, auf ein Neues“, sagte seine Frau und prostete uns mit ihrem Fruchtsaftgetränk zu.

„Wir werden es aber wohl nicht mehr erleben“, fügte der Ehemann nachdenklich hinzu.

„Du vielleicht nicht, aber ich habe durchaus noch Hoffnung“, erwiderte seine Frau, „wo man mich doch grad wieder neu in Schuss gebracht hat.“