Die Bombe auf dem grünen Tisch

Pokern boomt im TV, weil ein faszinierendes Spiel von dem oft unterschätzten Medium spannend aufbereitet wird. Und weil Pokerprofis das haben, was jeder Wirtschaftsboss braucht: mathematische Chancenabwägung, undurchschaubares Auftreten und die psychologische Beobachtung der Gegner

Von Christian Kortmann

Zappt man abends durchs Fernsehprogramm, so begegnen einem immer häufiger Bilder von nicht unbedingt trainierten Männern, die in Trainingsanzügen oder sonstiger Bequemkleidung an einem grünen Tisch sitzen und Karten spielen. Manche von ihnen tragen Sonnenbrillen, manche lächeln, manche starren mit versteinerter Miene drein, auch ein paar junge Frauen spielen mit. Doch bei keinem sollte man dem äußeren Eindruck trauen, denn es handelt sich um Pokerprofis, und Bluffen ist eine Grundlage ihres Geschäfts.

Das führen sie nun auch im deutschsprachigen Raum öffentlich vor: Im vergangenen Jahr hat sich das Kartenspiel zu einem TV-Hit entwickelt. Die Sportsender DSF und Eurosport zeigen täglich Pokersendungen, inzwischen sogar zur Primetime. Kürzlich hat Stefan Raab („TV Total“) ein Prominentenpokern auf Pro7 veranstaltet, eine sehr gute Einschaltquote erzielt und damit das neue Genre in den Mainstream überführt.

Als Pokerlaie verfolgt man das Geschehen zunächst belustigt bis verständnislos, weil man erst die Grundregeln des Spiels erlernen muss, um Vergnügen daraus zu ziehen: Das oft der Konsumentenverblödung bezichtigte Fernsehen zeigt hier beispielhaft die klassische Doppelfunktion des Belehrens und Unterhaltens und hat einen faszinierenden Weg gefunden, das Wesen des Spiels zu vermitteln.

Bei Texas Hold’em, der populärsten Pokervariante, werden fünf Karten vom Kartengeber, dem „Dealer“, offen aufgedeckt. Zudem erhält jeder Spieler zwei verdeckte Karten, die er mit Karten aus den fünf offenen zu einer Hand aus fünf Karten kombiniert – die beste Kombination gewinnt.

Technik hilft beim Spicken

Der Fernsehzuschauer kennt die Blätter aller Spieler, weil Kameras im Pokertisch die verdeckten Karten von unten filmen. Möglich wurde dies durch miniaturisierte Kameratechnik. Seit Poker 1999 erstmalig auf diese Weise im britischen Fernsehen zu sehen war, wurde die Präsentation kontinuierlich verbessert.

Auch die Erfolgsgeschichte des Chris Moneymaker, der angeblich wirklich so heißt, verhalf dem Spiel zu einem multimedialen und globalen Siegeszug. 2003 gewann er als unbekannter Amateur 2,5 Millionen Dollar bei den World Series of Poker (WSOP) in Las Vegas. Im Jahr 2005 wurden allein in den USA mit Online-Poker 2,5 Milliarden Dollar umgesetzt.

Beim TV-Poker beobachtet der Zuschauer von höherer Warte, wie gut die Spieler die Kartenverteilung in den Händen ihrer Gegner abschätzen. Poker ist kein Glücksspiel, sondern Denksport. Schnelle Rechenkünste sind hilfreich, weshalb zunehmend Schachmeister ihr Geld mit Poker verdienen. Wer aufmerksam zusieht, lernt, dass das Erfolgsgeheimnis im Poker wie im Fußball im defensiven Spiel besteht, darin, nicht zu viel Geld zu verlieren und die wenigen Chancen zu nutzen.

Der Zuschauer weiß, wann geblufft wird, während die Spieler im Unklaren sind, er sieht ihnen beim Denken zu: Aus diesem Wissensgefälle resultiert „Spannung“ im Sinne Alfred Hitchcocks, der diese in seinen Filmen so beschrieb: „Die Bombe ist unter dem Tisch, und das Publikum weiß es. Es möchte den Leuten auf der Leinwand zurufen: Reden Sie nicht über so banale Dinge, unter Ihrem Tisch ist eine Bombe und gleich wird sie explodieren!“ So läuft jede Pokerrunde wie Hitchcocks Filme „Cocktail für eine Leiche“ oder „Fenster zum Hof“ auf einen „Showdown“ zu, bei dem die Karten aufgedeckt werden und die Bluffbombe hochgeht.

Das Spiel erzählt von Schein und Sein: Beim gelungenen Bluff setzt sich der Spieler durch Chuzpe und Willenskraft über die Realität hinweg und verwandelt nichts in alles. Als Fernsehunterhaltung ist es zwar ein neues Phänomen, doch das dramaturgische Potenzial des Spiels ist kulturgeschichtlich lange bekannt. Schon 1965 zeigte der Film „Cincinatti Kid“ mit Steve McQueen die Starattitüde eines Pokerchampions und seine harte Arbeit für den Erfolg: In einer Sequenz lernt Kid die Wahrscheinlichkeiten der Kartenverteilung auswendig. Aus dem Westerngenre ist Poker als erbarmungslose Vorstufe zum Duell präsent, und im Sprachgebrauch steht „hoch pokern“ dafür, ein großes Risiko einzugehen.

Die Filmbranche hat nicht nur den Begriff des „Showdown“ vom Poker übernommen, sondern sucht auch wieder die Nähe zum Spiel. So haben etwa die Schauspieler Ben Affleck, James Woods oder Jennifer Tilly („Bound“) professionelle Pokererfolge vorzuweisen. Und im neuesten James-Bond-Film, „Casino Royale“, wird in der zentralen Szene, in der Bond den Bösewicht Le Chiffre im Kartenspiel vernichtet, einer der Höhepunkte von Ian Flemings Romanvorlage, Baccarat durch Texas Hold’em ersetzt: Wenn der Film im Winter weltweit startet, wird diese Pokervariante also durch James Bond, den größten Spieler der Popkultur, geadelt und jedermann ein Begriff sein.

Popkultur ist im Spiel

Für die beiden verdeckten Karten, die die Spieler beim Texas Hold’em erhalten, gibt es einen eigenen Slang, der zeigt, wie sehr das Spiel bereits mit populärkulturellen Bezügen aufgeladen ist: Eine 5 und eine 9 nennt man „Dolly Parton“, in Anspielung auf „9 To 5“, den ersten Nummer-1-Hit der Countrysängerin; ein As und ein König auf der Hand heißen „Anna Kournikova“, denn wie die Tennisspielerin sieht diese Kombination zwar gut aus, gewinnt aber selten.

2005 wurde der Australier Joseph Hachem Champion des Hauptturniers der – momentan wieder stattfindenden – WSOP und damit Pokerweltmeister. Er gewann das Goldene Armband, die begehrteste Pokertrophäe, und 7,5 Millionen Dollar. Fotos von ihm gingen um die Welt, auf denen er wie Dagobert Duck in einem Haufen von Geldbündeln wühlt: Offener als bei anderen Sportarten kommt hier der finanzielle Aspekt des Profitums zum Ausdruck. Man kann Poker nicht nur als taktisch-strategischen Sport goutieren, sondern sich auch vom Materiellen zur Nachahmung verlocken lassen: Die Online-Pokerportale im Internet sind rund um die Uhr geöffnet.

Die Legalität dieser Kasinos ist häufig ungeklärt, da die Internationalität von Anbietern und Spielern nationale Rechtsprechungen überfordert. In den USA, wo Glücksspiel nur in bestimmten Staaten erlaubt ist, ist deshalb geplant, die Transaktionen von Kreditkartenfirmen zu Internet-Kasinobetreibern zu verbieten, um der Branche die Leitung zu den Konten der Kunden kappen. Die vernetzte Marktwirtschaft wird sich aber nur schwerlich einschränken lassen, denn das Pokerspielen verspricht dem Einzelnen die Chance, vom globalisierten Kapitalismus zu profitieren, wenn er nur die richtigen Entscheidungen trifft.

Hinter dem Können der Pokerprofis steht nämlich die gleiche mathematische Spieltheorie, die auch in den Wirtschaftswissenschaften und der New Economy angewendet wird: Unter Zurückstellung von ethischen Fragen geht es darum, mit welcher Strategie eine Partei den höchsten Gewinn erzielt.

Die wahren Banker

Spieltheoretisch haben eine erfolgreiche Börsenspekulation und ein Pokerbluff die gleiche Grundlage: Mathematische Chancenabwägung, strategisches Risikomanagement, undurchschaubares Auftreten und psychologische Beobachtung der Gegner sind beim Berufsspieler ebenso gefragte Skills wie beim zeitgenössischen Unternehmensberater oder Investmentbanker.

Man kann zwar, auch online, um Spielgeld oder Minieinsätze von unter einem Cent spielen, aber – anders als etwa beim Lottospiel – kann beim Poker nur der viel gewinnen, der auch viel einsetzt. Darin besteht einerseits der Kitzel, der TV-Poker und das Duell zwischen James Bond und Le Chiffre so spannend macht, und andererseits das Risiko, dessen sich jeder bewusst sein sollte, der selbst zu den Karten greift: Im Kern ist Poker ein Spiel um den eigenen Triumph oder Untergang.