Die Sneaker-Gemeinde

Heute Abend treffen sich wieder 600 eingefleischte Filmfans im Kino 1 des Grindel Ufa-Palasts. Sie sehen sich alte Trailer an, in denen sie nach Hinweisen auf den Überraschungsfilm suchen

von Lucas Vogelsang

Montag, 20.15 Uhr, ist das Kino 1 im Grindel Ufa-Palast wie immer voll. Wer keinen Platz bekommt, steht im fahlen Licht der Notausgangsschilder. Kurz vor Beginn der Vorstellung fliegen aus der letzten Reihe Grüße und Küsschen ins Parkett. Man kennt sich, denn am Montag trifft sich im Kino 1 die Sneak-Gemeinde, eine eingeschworene Gemeinschaft aus Filmfetischisten und Vollzeitcineasten.

Bei Sneak-Previews weiß das Publikum vorher nicht, welcher Film gezeigt wird. Sneak-Previews gibt es überall, doch den Grindel-Sneak gibt es nur einmal. Einer ewigen Tradition folgend, beginnt jede Vorstellung mit einem Uralt-Dolby SR-Trailer. In den Sitzen entsteht ein unbestimmt melodischer Applaus. Das Publikum summt, der Saal vibriert. Auf der Leinwand fliegt die Kamera über einen See in Schottland. Die Sneaker springen auf, mit den Armen über dem Kopf. Machen eine Geste, die an Christopher Reeve in seiner Paraderolle als Superman erinnert.

In der Sneak gibt es keine Werbung, und die Trailervorschau ist eine kinematographische Zeitreise. Filme unterschiedlichster Jahrgänge werden in einer nostalgischen Nachbetrachtung abgespult. Sie enthalten einen Hinweis auf den Film des Abends, teilen eine bestimmte Gemeinsamkeit mit dem noch unbekannten Streifen. Meistens einen unbedeutenden Nebendarsteller, der in allen Filmen auftaucht.

Viele Filmchen rufen besondere Gefühlsregungen hervor. Die Sneaker jubeln, schreien, sprechen die Worte der Schauspieler mit. Die Trailershow endet immer mit demselben Ausschnitt: Jackie Chan fliegt in schwarzweiß über eine Kühlerhaube. Jemand ruft „Ist alles klar?“, 600 Stimmen antworten mit einem choralen „Nein!“ und strecken eine kollektive Faust in die Luft.

Kurze Pause. Ein Engländer versteigert Spielzeug, um Salzgebäck zu subventionieren, das wenig später in seinen rot glänzenden Bahlsen-Tüten in die Menge fliegt. Es folgt ein kurzer Augenblick der Ungewissheit, nur zu vergleichen mit dem Gefühl einer Ü-Ei-Öffnung. Der zauberhafte Nervenkitzel einer Sneak liegt genau in diesem Moment. Niete oder Blockbuster. Manchmal kann es passieren, dass vier Wochen hintereinander nur Grottenfilme laufen. Aber ein Kracher reicht, um die Fans zu versöhnen. Der Film beginnt. Das Publikum hält die Luft an. Niete.

Damit gehört die Bühne endgültig den Sneakers. In ihrem online-Regelbuch wird verlangt, Szenen zu kommentieren, um für Lebendigkeit zu sorgen. Zweieinhalb Stunden steigern sich so Zwischenrufe und Kommentare zu einem überlebensgroßen Sit-com-Publikum, das in Gelächter ausbricht, Romantik mit einem tiefen Seufzer und jeden Kuss mit Szenenapplaus unterlegt.

Nach der Vorstellung vor dem Kino. Es ist ruhig. Viele stehen in kleinen Gruppen. Niemand wechselt Blicke oder Abschiedsworte. Was in der Sneak passiert, bleibt in der Sneak.

Jeden Montag, 20.15 Uhr, Kino 1 im Grindel Ufa-Palast. Eintritt: 5 Euro