Barbar in Badelatschen

Heruntergekommene Berufe. Heute: Der Bademeister (Fleischbeschauer)

Gern verteilt der Bademeister Watschen, konfisziert Eistüten und betatscht die Damenwelt

Als das Bademeisterwesen mir erstmals das Sichtfeld verdunkelte, war ich sechs Jahre alt. Ich lag auf einer Luftmatratze, kaute Waffelbruch und las eine Mickeyvision. „Dat kleine Dicke hier?“, dröhnte das Bademeisterwesen. Mein Vater nickte und ließ mich allein. Allein mit meiner chronischen Wasserscheu und einem weißen Riesen namens Riemer, den mir mein Vater als DLRG-Vorstand und Ex-Europameister im Langstreckentauchen vorgestellt hatte.

Riemer, dessen schwarz bepelzte Unterarme Popeye vor Neid hätten erblassen lassen, hieß mich aufstehen. Dann legte sich seine Pranke wie ein Schraubstock um meinen Nacken und zerrte mich an den Rand des Beckens, wo sich mittlerweile eine Menge Volk versammelt hatte, wohlwissend, dass die Riemer’sche Entjungferung eines Nichtschwimmers in unserem öden Bischofsstädtchen der größte Freiluftevent seit Abschaffung des Prangers war.

Riemer wusste das auch. Jedenfalls kerbte sich ein eitles Grienen in seine Mount-Rushmore-haften Züge, als er mir eine Kopfnuss verpassend entgegenbellte: „Aufgepasst getze, ich zeich dich dat Brustschwimm. Erstma in theoretisch“. Der Bademeister stellte sich in Positur, verlagerte sein Gewicht auf das linke Bein und pumpte einen Kubikmeter Luft in den Thorax. Dann stach Riemer das rechte Bein seitwärts in die Luft, schwang es elegant zurück zum Standbein. Gleichzeitig hatte er die gefalteten Handflächen im Stil einer Gottesanbeterin nach vorn gepeitscht, um selbige am höchsten Punkt der Streckung nach außen zu drehen und im Halbkreis wieder in die Ausgangsstellung gleiten zu lassen. Pfeifend entwich die Luft aus dem Bademeister. Der weibliche Teil des Publikums applaudierte entzückt. Riemer verbeugte sich knapp.

„Kapiert?“, dröhnte er in meine Richtung. Ich wollte gerade „nein“ sagen, da lag ich schon im Wasser und hatte zwei Liter urinwarme Chlorbracke geschluckt. Während ich nach Luft japste und dabei wie Nachbars Lumpi um mein Leben paddelte, griff Riemer nach einer langen Stange, an deren Ende ein Ring aus biegsamem Metall befestigt war, und hielt sie ins Becken. Panisch versuchte ich das Ding zu erreichen, aber der verfluchte Bademeister zog es immer wieder weg, dabei unentwegt auf mich einteufelnd, als könnte mich allein sein Gebrüll über Wasser halten. „Zieh und Beinschlach, zieh und Beinschlach“, rauschte es in meine Gehörgänge, ich vernahm auch irgendetwas über einen „nassen Sack“ und Fett, das normalerweise oben schwimmt.

Da war ich mir aber nicht ganz sicher. Denn ich hatte mittlerweile nicht nur Wasser in Nase und Lungen, sondern auch in den Ohren. Auch fühlte ich weder Arme noch Beine. Mein Kopf wurde leicht, und ich konnte mir selbst beim Schwimmen respektive Nichtschwimmen zusehen. Genau genommen sah ich mich langsam, aber stetig dem Beckenboden entgegengleiten. Das war ein komisches Gefühl. Denn gleichzeitig zog mich eine unsichtbare Kraft empor, sodass das Freibad, ja das ganze Areal samt Zufahrt und umgebenden Wäldchen spielzeugklein unter mir lag. Ich konnte gerade noch erkennen, dass ein dicker weißer Punkt, augenscheinlich der Ex-Europameister im Langstreckentauchen, ins Wasser sprang, unter der Oberfläche verschwand, dort eine beeindruckende Weile verblieb, ehe er, ein fast ebenso weißes Pünktchen apportierend, wieder erschien und das leblose Bündel am Beckenrand platzierte. Hinter dem Wäldchen nahte rasant ein Rettungswagen.

Kurze Zeit später hatte man mich wieder auf den Boden der Tatsachen und damit ins Leben zurückgeholt. Seitdem bin ich überzeugt, dass das Bademeisterwesen ein zutiefst heruntergekommenes ist. Und fühlte mich einmal mehr bestätigt, als die Süddeutsche Zeitung kürzlich Karl-Heinz S., den Aufsichtsführenden im Münchner Westbad, mit folgendem Bekenntnis zitierte: „Eigentlich wollte ich Tierpfleger werden“. Jetzt ist er Bademeister und kann nicht verwinden, dass der Halbgott in Weiß zum Waschlappen und Hanswurst mutierte: „In meiner Anfangszeit war man eine Respektsperson, da sagte man nur ‚Bursche …!‘ und hat die Störenfriede hinausbefördert. Heute wissen sie: ‚Sobald er mich anlangt, macht er sich strafbar.‘ “

Ja, die zivilrechtliche Durchbildung des badebehosten Volkskörpers macht dem Bademeisterwesen schwer zu schaffen. Watschen verteilen, Eistüten konfiszieren, Damen betatschen und im Muskelshirt posieren wie Conan der Barbar, das ist vorbei. Früher brauchte es nur das Gemüt eines Feldwebels, das Freischwimmerabzeichen und gute Beziehungen zum Bäderamt, schon bekam einer ein ganzes Freibad zum Lehen und konnte es pressen und knechten, ohne dass ihm irgendeiner auf die Finger sah. Heute zählt das Bademeisterwesen zu den nichtärztlichen Heilberufen, muss sich in dreijähriger Lehrfron mit höherem Blödsinn wie Staatskunde, Sozialpsychologie und Hydrotherapie herumschlagen. Wenn er Pech hat, landet der Bademeister nicht mal an der frischen Luft, sondern in einem Krankenhaus, in der Kurklinik oder im Irrenspital. Oder der Kämmerer lässt ihm wegen mangelnder Finanzkraft gleich das Wasser ab. Es geschieht ihm ganz recht. MICHAEL QUASTHOFF