LESERINNENBRIEFE
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Unpräziser Vorwurf

■ betr.: „Wir Israelkritiker“, taz vom 9. 8. 10

Es geht eine ungeheure Faszination aus von dem Gedanken, ein einst verfolgtes Volk nutze seine Opferrolle aus, um nun als Staat selbst zum Verfolger werden zu können. Dieser Gedanke ist nicht speziell judenfeindlich, sondern Ausdruck einer allgemeinen Skepsis gegenüber Mächtigen; der Antisemitismus-Vorwurf ist daher unpräzise. Der Gedanke verführt aber dazu, den Staat Israel ungleich misstrauischer zu beobachten als andere, paradoxerweise gerade weil Juden Opfer waren – und daher verdächtigt werden, das auszunutzen. Dieser Argwohn darf sich nicht verselbstständigen; sonst wird er in der Tat zu Judenfeindlichkeit. MARTIN HAGEMEYER, Wuppertal

Schlicht sittenwidrig

■ betr.: „Sklavenarbeit im Beerenwald“, taz vom 9. 8. 10

Also, die PflückerInnen haben die Verträge entweder nicht gelesen oder nicht verstanden (was nicht heißt, dass sie nicht hinters Licht geführt worden sind). Wer jemals Heidelbeeren eigenhändig gepflückt hat, weiß, dass man auch bei dichtem Bestand und vollen Sträuchern auf kaum mehr als 1,5 Kilogramm pro Stunde kommt. Ein Vertrag, der mit Tagesernten von 90 Kilo rechnet, ist schlicht sittenwidrig. JUTTA PAULUS, Neustadt an der Weinstraße

Ein moderner Bahnhof

■ betr.: „Stuttgarts Stadtchef unter Druck“, taz vom 9. 8. 10

Denkt bitte nicht, es gebe in Stuttgart nur noch „Bonatzisten“, die um Kopfbahnhof und Bäume im Park fürchten, und alle anderen seien Bornierte, denen die Stadtentwicklung gleichgültig ist. Im Gegenteil, es gibt ausreichend ökologisch gesinnte, politisch kritische, den ÖPNV-nutzende, taz-lesende Stuttgarter, die froh sind, mit S21 unter anderem einen modernen Bahnhof und mehr Platz in der Innenstadt zu bekommen. Und ich sehe auch nicht, dass jetzt Demokratie auf der Strecke bleibt, nur weil den Gegnern von S21 ihr Wunsch nach einem Plebiszit nicht gewährt wird. KARL STRECKER, Stuttgart

Grüner Populismus ist der Skandal

■ betr.: „Der Schwabenaufstand“, „Riesiger Minderwertigkeits-komplex“, taz vom 7. 8. 10

Wer der Bahn am Mobilitätskuchen der Zukunft mehr Gewicht geben will, der muss sie sich entwickeln lassen, gerade auch mit Großprojekten. Nur so kann eine positive Sogwirkung auf das gesamte Umland entstehen. Die Bahnfahr-WeltmeisterInnen der Schweiz sind hier Vorbild. Pro Kopf wird im Vergleich zu Deutschland das Fünffache je Jahr investiert, Großprojekte wie etwa die Untertunnelung von Zürich werden genauso als Notwendigkeit betrachtet wie der Schienenausbau auf dem Land.

Wer in einem (vom Wohlstand der Exportindustrie geprägten) Ballungsraum wohnt, der muss Stadt- und Infrastrukturentwicklungen grundsätzlich akzeptieren. Sonst haben wir Stagnation und mittelfristig Rückstand. Eine solch große Chance, Stuttgart umfassend weiterentwickeln zu können, wird es auf sehr lange Sicht nicht mehr geben. Wer im politischen Feld gestalten will, der muss die ausgehandelten rechtsstaatlichen Regeln der repräsentativen Demokratie anerkennen oder rechtzeitig (!) die basisdemokratischen Möglichkeiten nutzen und organisieren. Ansonsten wird unsere gesamte politische Ordnung in Frage gestellt. „Stuttgart 21“ wurde über Jahre stets mehrheitlich auf den verschiedensten parlamentarischen Ebenen legitimiert. Wer wäre aber eigentlich legitimiert, bei einem jetzigen Moratorium abzustimmen? Die Stuttgarter? Baden-Württemberger? Die gesamte Republik? Die Bahnfahrer?

Im Hinblick auf die zwei bevorstehenden Wahlen im Jahr 2011 (Landtagswahl und OB-Wahl) ist das Stimmenfangengehen nachvollziehbar – das müssen alle Parteien tun. Dass aber ausgerechnet die Grünen ihren am Inhalt orientierten Wahrhaftigkeitsanspruch auf dem Popularitätsaltar opfern, ist erschreckend. So zu tun, als sei der Kopfbahnhof zu „Stuttgart 21“ eine ernsthafte Alternative, ist schlicht verlogen – die topografische Lage erlaubt derzeit nur fünf (ausgebaut maximal sieben) Schienenzugänge ins Bahnhofstal, die politischen Abstimmungen würden das Projekt weit nach hinten schieben, die Kosten sind einem Großprojekt entsprechend ebenfalls gigantisch hoch und schwer kalkulierbar, und die direkte Anbindung Stuttgarts an die ICE-Trasse würde auf dem Spiel stehen. Verantwortung für die ökologische Variante der Mobilität, für die Entwicklung der Stadt Stuttgart und des gesamten Landes, sowie für die politische Kultur sieht anders aus. WERNER NUBER, Friedrichshafen