Im Eifer des Schweigens

VATIKAN Trotz knallharter Vorwürfe der UN glaubt die katholische Kirche, den Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen genügend aufgearbeitet zu haben

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Bei oberflächlichem Hinsehen könnte man meinen: Alles wie gehabt. Der Vatikan steckt Prügel ein, muss sich erneut nicht nur den massenhaften Missbrauch von Kindern durch Angehörige des Klerus, sondern obendrein auch die flächendeckende Vertuschung dieser Verbrechen vorwerfen lassen – und hat als Reaktion auf die Vorwürfe wieder einmal die gut eingeübte Beleidigte-Leberwurst-Nummer zu bieten.

Den Aufschlag machte diesmal die UNO-Kinderrechtskommission. In einem Report, der auf die der Kirche so lieben diplomatischen Relativierungen völlig verzichtet, liefert die Kommission eine gnadenlose Abrechnung.

Da geht es nicht nur um die Zehntausenden Missbrauchsfälle der vergangenen Jahrzehnte, sondern auch um den Umgang der Kirche mit ihnen: um das jahrzehntelange Herunterspielen, um den Eifer, mit dem der Vatikan den Deckel draufhielt, um die Sorge, nur ja nichts nach außen dringen zu lassen; um eine Politik, die den Opferschutz hintanstellte und sich vor allem dem Täterschutz widmete, per Schweigegebot bei Exkommunikationsandrohung für alle, die von den Fällen wussten; um „Lösungen“, die in der puren Versetzung der Täter von einer Pfarrei zur anderen bestanden – wo sie dann fröhlich weitermachen konnten; um den Verzicht der kirchlichen Hierarchien darauf, die weltlichen Strafverfolgungsbehörden einzuschalten.

All dies sind Fakten, die nach der Welle der Missbrauchsskandale in der Kirche nur allzu bekannt sind – wenigstens denen, die sie zur Kenntnis nehmen wollten. Geradezu paradigmatisch steht dafür der Fall der „Legionäre Christi“, in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts gegründet von dem Mexikaner Marcial Maciel. Jahrzehntelang sollte dieser Mann sein Unwesen treiben, reihenweise minderjährige Seminaristen vergewaltigen – doch obwohl erste Vorwürfe schon kurz nach der Gründung der „Legionäre“ aufkamen und immer wieder auch den Vatikan erreichten, konnte Maciel einfach ungestört weitermachen – bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2008. Dem Verbrecher legte die Kirche erst im Jahr 2006 das Handwerk, stellte ihn aber umgehend als isolierten Einzeltäter dar. Und die Legionäre Christi? Erst am letzten Donnerstag – dem Tag nach Veröffentlichung des UN-Reports – konnten sie sich endlich zu einer lauen Entschuldigung für die „objektiv unmoralischen“ Taten ihres Gründers, das „lange institutionelle Schweigen“ und die „Fehler“ im Umgang mit den Vorwürfen an Maciel aufraffen.

Auch jetzt erleben wir die altbekannte Inszenierung: Vorwürfe kommen auf den Tisch, die Kirche wiegelt ab. Und doch ist durchaus nicht alles wie gehabt. Denn diesmal ist es ein UN-Organ, das ganz offiziell mit dem Vatikan abrechnet, ja, mehr noch, das dem Vatikan Vertragsbruch vorwirft. „Einmischung“ ist das nicht – schließlich hat auch der Heilige Stuhl die UN-Kinderrechtskonvention unterzeichnet und sich damit ganz offiziell der Beobachtung durch die Kommission unterworfen.

Und die Kirche? Sie reagiert wieder einmal tief beleidigt. Avvenire, die Tageszeitung der Italienischen Bischofskonferenz, macht schon in der Seite-1-Schlagzeile einen „Bumerang der UNO“ aus, spricht von einem „surrealen“ Dokument, einer „Lumperei“. Und der Vatikan-Nuntius bei der UNO in Genf, Silvano Maria Tomasi, sieht die „bekannten Lobbys“ am Werk, die sich für die Interessen der Homosexuellen und die Schwulenehe starkmachen.

Recht eigentlich ist also der Verein, in dem die Täter zu Hause waren, das Opfer übler Verunglimpfungen. Vorgebracht wird zum einen das Argument, unter Benedikt XVI. seien doch immerhin in den Jahren 2011–2012 400 Priester zwangsweise in den Laienstand versetzt worden, weil sie sich Übergriffe auf Kinder zuschulden kommen ließen. Die Botschaft ist klar: Die Wende ist längst vollzogen, und zwar nicht erst unter Franziskus, sondern schon unter seinen Vorgängern Wojtyla und Ratzinger. Zweifel an dieser These sind erlaubt. Gewiss, Pädophile haben es heute schwerer in der Kirche – und doch wird man den Eindruck nicht los, dass bislang weiterhin ein Kriterium ungebrochen gilt: dass der Ruf der Institution wichtiger sei als das Schicksal der Opfer.

Denn – und auch dies moniert der Report – der Vatikan hat bisher nie wirklich reinen Tisch gemacht und seine Archive geöffnet. Auch jetzt erfahren wir, das gehe nicht; schließlich müsse der „Zeugen- und Opferschutz“ gewahrt bleiben. Wie immer schon werden mithin die Opfer am besten dadurch geschützt, dass die Fälle unter der Decke und die Täter anonym bleiben.

Und da ist zum anderen das routiniert abgespulte Argument – diesmal geboten vom Genfer Vatikan-Nuntius –, die ganze Missbrauchsdiskussion gehe recht eigentlich gar nicht in besonderer Weise den Klerus an. Schließlich gebe es pädophile Übergriffe überall, selbst in den am meisten geachteten Berufsgruppen der Welt. Da ist es dann nach dieser Logik unvermeidlich, dass auch immer mal wieder ein Priester unter den Tätern auftaucht.

Dieses Argument hat einen schönen Vorteil: Es beendet die Diskussion, statt sie zu eröffnen, mit einem albern-verniedlichenden Verweis darauf, dass das Fleisch eben schwach ist und Sünder überall sind. Ganz so einfach ist es nicht, und sei es schon deshalb, weil Priester ganz andere Möglichkeiten zum pädophilen Missbrauch haben als, sagen wir einmal, ein Rechtsanwalt.

Doch unter Franziskus soll ja alles ganz anders werden. Eine neue Vatikan-Kommission ist eingesetzt, die sich dem Umgang der Kirche mit Missbrauchsfällen widmen soll. Wie in so vielen anderen Fällen auch hat Papst Bergoglio sich allein mit dieser Ankündigung als kraftvoller Neuerer inszeniert. Auch zu diesem Thema allerdings stehen die Taten noch aus. Eine Reaktion auf die Anklage der UN hat man von ihm bislang auch nicht vernommen.