Kein Urlaub vom Krieg

In Israel wächst die Angst vor neuen Raketen. Aber auch Linksliberale finden: Die Hisbollah muss besiegt werden

SCHIMSCHIT taz ■ Noga weiß nicht, was sie mehr fürchtet: wenn ihr Vater zur Arbeit nach Haifa fährt oder wenn er für die israelische Armee Einsätze im Libanon fliegt. Auf der Autofahrt in die nahe gelegene nordisraelische Hafenstadt ist er ohne Sirenenwarnung den Katjuscha-Raketen ausgesetzt. Wird der Pilot der Reserve für jeweils ein bis zwei Tage einberufen, könnte er abgeschossen werden oder über dem Kampfgebiet abstürzen. „Das macht mir Angst“, sagt seine Tochter Noga.

Es sind große Ferien, und die elfjährige Noga vertreibt sich mit ihrer Freundin Maja die Zeit zwischen den Alarmen. Sie dürfen sich in der kleinen Ortschaft Schimschit, rund 40 Kilometer von der libanesischen Grenze entfernt, nie weit von zu Hause entfernen. Überall in der näheren Umgebung sind bereits Katjuscha-Raketen der Hisbollah eingeschlagen. Wenn die Sirenen losheulen, haben die beiden Mädchen gerade mal 60 Sekunden Zeit, um in den Schutzraum zu laufen, die Stahlplatte vors Fenster zu ziehen und die Tür zu schließen.

Auch Majas Vater ist Pilot. Seine Flugroute führt meist nah an zu Hause vorbei. Maja kann ihn über sich hinwegfliegen hören. „Das ist schwer für mich“, sagt sie. Ihr schmales, von dunklen langen Haaren umrahmtes Gesicht sieht ernst und traurig aus. „Ich sehe mir trotzdem immer die Nachrichten an“, sagt sie. „Ich fühle mich nicht besser, wenn ich nicht weiß, was passiert.“

Ein ums andere Mal werden die Kinder der rund 550 Familien in Schimschit nach Tel Aviv gebracht, um auf andere Gedanken zu kommen, Urlaub vom Krieg zu machen. „Doch grundsätzlich ist es sinnvoller, wenn die Familien in dieser Situation zusammenbleiben“, sagt Majas Mutter, Inbal Soar, eine Schulpsychologin. „Für die Kinder ist es besser, aber auch für die Eltern.“

Doch wenn die Schule wieder losgeht, wird das kaum machbar sein. Derzeit weiß niemand, wie lange sich der Krieg hinziehen wird. Vollmundig hat die israelische Armee nach dem Überfall der Hisbollah auf einen israelischen Grenzposten am 12. Juli angekündigt, man werde die Schiitenmiliz besiegen. Doch fast drei Wochen bombardiert Israel den Libanon nun schon – ohne erkennbare Erfolge. Armeesprecher melden immer wieder, man habe der Hisbollah einen schweren Schlag zugefügt, diese oder jene Kommandozentrale zerstört und eine hohe Zahl von Hisbollah-Milizen getötet.

Doch den Raketenhagel hat das nicht vermindert. Täglich landen 80 bis 120 Katjuschas in Israel. Das öffentliche Leben ist im Norden praktisch lahm gelegt. 250.000 Menschen wurden bereits evakuiert. Viele gehen derzeit nicht zur Arbeit. Die Einkaufszentren sind, falls sie überhaupt geöffnet haben, wie ausgestorben. Auf den Straßen ist kaum noch Verkehr.

Am Wochenende wurden sogar zum ersten Mal Fajr-5-Raketen mit größerer Reichweite und Sprengkraft als die Katjuschas eingesetzt. Und Hisbollah-Chef Nasrallah drohte in einer TV-Rede, dies sei erst der Anfang. Man ziele jetzt auch auf Zentralisrael. Das „zionistische Gebilde“ werde ohnehin nur „vorrübergehend“ existieren, ergänzte er.

„Die Hisbollah und das, was diese Terrororganisation symbolisiert, muss um jeden Preis zerstört werden“, schreibt ein Kommentator der linksliberalen Tageszeitung Ha’aretz höchst alarmiert. „Wenn die Hisbollah keine Niederlage erlebt in diesem Krieg, das wird das Ende der israelischen Abschreckung gegen unsere Feinde sein.“ Die israelischen Militärs stehen unter enormem Druck. Armeechef Dan Chalutz ist die schwierige Lage offenbar bereits auf den Magen geschlagen. Er wurde mit einem Geschwür ins Krankenhaus eingeliefert, melden israelische Medien gestern.

„Unser Problem ist“, sagt Armeesprecher Pilcer Mitch, „dass sich die Hisbollah hinter der Zivilbevölkerung versteckt.“ Überall im Südlibanon würden von Israel täglich Flugblätter abgeworfen, um die Zivilisten dazu zu bringen, die Kampfzone zu verlassen. Ohne Erfolg. „Die Hisbollah lässt sie nicht gehen“, glaubt Mitch. Trifft Israel aber die Zivilbevölkerung – wie gestern bei dem verheerenden Vorfall in Kana –, stehen Ministerpräsident Ehud Olmert und seine Regierung als Schlächter da.

„Dabei haben wir bei diesem Krieg keine Wahl“, sagt Inbal Soar. Sie fühle sich wie beim Jom-Kippur-Krieg 1973, als die arabischen Staaten angeführt von Syrien und Ägypten den jüdischen Staat am höchsten jüdischen Feiertag – Jom Kippur – überfallen hatten. Dieses Mal sei es ein Stellvertreterkrieg. Syrien und Iran ließen die Hisbollah angreifen. Sie frage sich, ob im Ausland überhaupt verstanden würde, worum es für Israel gehe, sagt Inbal Soar: „Die Hisbollah will uns vernichten. Sie haben uns angegriffen. Wir müssen uns verteidigen. Es geht um die Frage: wir oder sie.“ SILKE MERTINS