HAMBURGER SZENE VON KATHARINA GIPP: Der Mann mit dem Kreuz
Mit gesenktem Kopf steigt er in die Bahn, lehnt sich unauffällig in der Nähe der Türen an die Wand. Halb hinter sich versteckt hält er ein großes Holzkreuz. Er ist ein Mann mittleren Alters, mit schwindender Frisur und unscheinbarer Kleidung. Was er mit dem Kreuz vorhat, lässt sich höchstens mit Blick auf seine Jesus-Pantoffeln mutmaßen.
Am Hauptbahnhof angekommen, durchzucken ihn ungeahnte Lebensgeister. Schwungvoll schultert er sein Kreuz und eilt davon. Nur wenige Minuten später hat er seine Bühne erreicht und der in sich gekehrte Mann entpuppt sich als aufsehenerregendes Ein-Mann-Theater.
Nachdem er sich auf der Spitaler Straße eingerichtet, den Rucksack und die Wasserflaschen vor sich abgestellt hat, legt er los: Das Holzkreuz wird zur Armverlängerung und zur Bekräftigung seiner Rede arglosen Passanten entgegen geschwenkt: „Sünder!“, schreit er mit weit aufgerissenen Augen, dass es von den Wänden widerhallt. „Ihr Menschen lebt in Sünde!“ Er zitiert aus der Bibel oder interpretiert sie nach seinem Gusto.
Ob ihm jemand zuhört, scheint ihn nicht zu interessieren. Auch die kichernden Jugendlichen, die ihn mit dem Handy filmen, stören ihn nicht. Erst der Auftritt eines dunkel geschminkten Emo-Mädchens bringt ihn aus der Fassung und lässt ihn wüste Verwünschungen gegen den Satan wimmern.
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