berliner szenen Fenster zum Hof

Balkonnachbarn

Es ist 1 Uhr morgens und ziemlich still in meiner Straße. Auf dem Balkon sitzend sehe ich trotzdem alle möglichen Dinge. Ein bisschen wie James Stewart in „Fenster zum Hof“.

Die Steinloggien im Haus drei Blöcke weiter links erinnern an urbane Höhlen. Dort flackert das Licht von Kerzen wie ein Lagerfeuer, und die Höhlenbewohner werfen lange Schatten an die Wand. Ab und zu treten Leute in den Häusern gegenüber auf ihre Balkone. Dann flammt ein Feuerzeug auf, und man weiß, es ist die Zeit der Raucher. Der dunkelhaarige Mann aus dem zweiten Stock im Haus gegenüber sitzt in Unterhose am Schreibtisch.

Wie es wohl sein muss, mit einer Doppelbalkonhälfte zu wohnen, wo der eigene Balkon vom nächsten nur durch eine Glaswand getrennt ist? Grüßt man sich jedes Mal, wenn man auf den Balkon geht? Unterhält man sich? Oder sitzt man still da und beobachtet sich gegenseitig?

Ich finde es schon schwierig genug, mit den Balkonbewohnern rechts neben mir umzugehen. Sie sind keine Nachbarn. Sie wohnen im Nebenhaus im gleichen Stock wie ich, unsere Balkone sind fünf Meter voneinander entfernt. Wir sind Balkonnachbarn. Seit einem Jahr bewohne ich bereits meinen Balkon und bin doch noch kein einziges Mal gegrüßt worden. Ich habe allerdings auch nicht gegrüßt. Wenn man einmal damit anfängt, denke ich mir, muss man das ja dann ständig machen. „Guten Morgen“ würde man zum Frühstück trällern, „Mahlzeit“ zum Mittag, „’N Abend“ zur Dämmerung, und dann wünscht man sich noch eine „Gute Nacht“. Da könnte ich auch gleich nebenan einziehen, denke ich mir, und puste die Kerze aus, damit ich im Dunkeln auch die Balkonnachbarn ungesehen beobachten kann.MAREIKE BARMEYER