„Zehn Kassen könnten ausreichen“

Rolf Rosenbrock vom Wissenschaftszentrum Berlin sieht den Gesundheitsfonds als Chance für die Krankenkassen. Sie könnten sich dadurch stärker auf ihre Mitglieder konzentrieren. Weniger Selbstverwaltung müsse nicht schlecht sein

taz: Herr Rosenbrock, den Kassen wird vorgeworfen, nur ihre eigenen Interessen zu vertreten. Stehen hinter den Protesten der Kassen mehr Macht- als Sachfragen?

Rolf Rosenbrock: In einer Demokratie darf sich niemand darüber wundern, dass eine Selbstverwaltung sich wehrt, der man wichtige Rechte wegnimmt. Aber andererseits können Kassen, die vom Beitragseinzug entlastet sind, sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren – auf die Versorgung der Versicherten. Dazu werden ihnen im Vertragswettbewerb mehr Möglichkeiten als je zuvor gegeben.

Die Kassen warnen vor schlechterer Versorgung, wenn man ihnen die Beitragshoheit entzieht. Zu Recht?

Im Prinzip nein. Wer Herr über den Beitragseinzug ist, hat zunächst nichts damit zu tun, welche Verträge abgeschlossen werden, wie vergütet wird und wie infolgedessen die Qualität der Versorgung ist. Es kann aber der Fall eintreten, dass der Staat als Organisator des Gesundheitsfonds sich weigert, die Beiträge zu erhöhen. Diese Festsetzung wirkt wie ein gedeckeltes Globalbudget und würde die Krankenkassen und damit die Versorgung unter harten Druck setzen.

Auch von anderer Seite droht den Kassen Autonomieverlust – statt sieben Verbänden soll es künftig nur noch einen Spitzenverband geben, der zentrale Aufgaben für alle Kassen regelt. Heißt das weniger Wettbewerb?

Das glaube ich nicht. Der Zusammenhang ist folgender: Wir haben derzeit etwa 250 gesetzliche Krankenversicherungen. Eine wesentliche geringere Anzahl würde die Qualität der Versorgung verbessern und die Kosten senken. Etwa zehn Kassen könnten theoretisch ausreichen. Die Erlaubnis, kassenartenübergreifende Fusionen zuzulassen, ist deshalb ein gesundheitspolitischer Fortschritt. Daraus folgt, dass die Kassen nicht mehr nach Kassenarten in Spitzenverbänden organisiert sein können. Es muss also einen gemeinsamen Dachverband geben. Was die Kompetenzen des Dachverbandes angeht, sehe ich keine Gefahr für die Qualität der Versorgung.

Aus Kassensicht würde der Dachverband 70 Prozent der Verträge einheitlich regeln und kaum Spielraum für die Kassen lassen, sich zu profilieren.

Das ist eine interessenpolitisch verständliche, aber sachlich unzutreffende Meinung. Jede Kasse behält das Recht, mit den Leistungserbringern günstige Verträge abzuschließen. Daran ändert sich durch den Spitzenverband nichts.

Der Spitzenverband soll aber unter staatlicher Aufsicht stehen. Dadurch sichert sich der Staat doch direkten Einfluss auf die Aktivitäten der Krankenkassen …

Der Verband ist zunächst ein selbst verwalteter Verband. Gern wird immer übersehen, dass seit Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahre 1883 der Staat immer die Letztverantwortung hatte.

Zusätzlich zum Beitragseinzug wird auch der Leistungskatalog stärker staatlich kontrolliert. Ist das der Anfang einer Entwicklung hin zur Staatsmedizin?

Da lässt der Gesundheitsfonds alle Optionen offen. Die Frage, ob wir das Sozialversicherungssystem behalten oder ein verstaatlichtes System bekommen, ist noch nicht entschieden. Natürlich ist vorstellbar, dass der Staat nach dem Beitragseinzug noch weitere Funktionen aus der Selbstverwaltung an sich zieht. Dann nähern wir uns einem staatlichen System. Das muss nicht schlechter sein.

Als Negativbeispiel für ein staatliches Gesundheitssystems gilt Großbritannien. Das National Health System (NHS) ist staatlich geregelt, mit dem Ergebnis, dass die medizinische Versorgung für alle einheitlich schlecht ist. Drohen ähnliche Zustände in Deutschland?

Im Hinblick auf Qualität, Kosten, Zugänglichkeit und Gerechtigkeit schneiden staatliche Gesundheitssysteme durchweg besser ab als sozialversicherungspflichtige Systeme und viel, viel besser als marktgesteuerte Systeme. Allerdings haben sie die weiche Flanke, dass es möglich ist, Gesundheitspolitik nach Haushaltslage zu gestalten. Maggie Thatcher hat in Großbritannien vorgemacht, wie das geht: Sie hat das NHS jahrelang finanziell ausgehungert. Und so denken wir heute, wenn wir an ein staatliches Gesundheitssystem denken, vor allem an Rationierung, Wartelisten und Verweigerung von lebensnotwendigen Dialysen für ältere Menschen. Aber der Blick nach Dänemark, Schweden, Finnland zeigt auch die Chancen staatlicher Systeme.

Welche Perspektive ist für Deutschland derzeit wahrscheinlicher – die britische oder die skandinavische?

Im Augenblick hätte ich eher die Sorge vor Großbritannien à la Thatcher, auch im Hinblick darauf, dass die Regierung keine Kraft hatte, die Privilegien der privaten Krankenkassen anzutasten. Das wird die gesetzlichen Kassen dazu zwingen, noch mehr um die freiwillig Versicherten zu werben, und das geht immer auf Kosten der Ärmeren.

INTERVIEW: ANNA LEHMANN