Israel debattiert

AUS JERUSALEM SILKE MERTINS

Amir Fester geht lieber 28 Tage ins Militärgefängnis als am Krieg gegen die Hisbollah im Libanon teilzunehmen. Aus Gewissensgründen hat der Hauptmann der Reserve nach seiner Einberufung den Dienst verweigert. Gestern rief die „Refusenik“-Organisation Jesch Gwul (Es gibt eine Grenze) dazu auf, dem Beispiel Festers zu folgen. Er ist der erste Reservist, der am Sonntag verurteilt wurde. Zehn weitere hätten bereits Rat gesucht, so die Organisation.

Sowohl in Tel Aviv als auch in Haifa ist es gestern nach der Tragödie im südlibanesischen Kana, bei der mindestens 54 Zivilisten getötet worden waren, zu Demonstrationen gekommen. Die israelische Friedensorganisation Gusch Schalom bewertete den Angriff als „Massaker und Kriegsverbrechen“. 600 Israelis, darunter Professoren und Vertreter der linksliberalen Meretz-Partei, haben außerdem eine internationale Petition unterschrieben, die eine sofortige und bedingungslose Waffenruhe fordert. „Keine Erklärung, auch wenn sie noch so richtig ist, kann uns mit den Bildern dieser zivilen Opfer versöhnen“, so Meretz-Chef Jossi Beilin über die Toten von Kana.

Doch damit endet auch schon die grundsätzliche Opposition gegen den Krieg. Die große Mehrheit der Israelis befürwortet die Militäroffensive, weil der jüdische Staat von der extremistischen Schiitenmiliz Hisbollah angegriffen wurde. Es herrscht das Gefühl vor, keine Wahl zu haben. Die Hisbollah zurückzudrängen, „ist lebenswichtig für unsere Existenz“, schreibt die auflagenstärkste israelische Zeitung Jedioth Ahronot. „Wenn Israel in diesem Krieg versagt, können wir nicht im Nahen Osten weiterleben.“ Erst recht nicht, wenn der Iran in wenigen Jahren Atomwaffen haben werde.

Immer umstrittener wird jedoch die Art der Kriegsführung. Zum einen fragen sich viele Israelis, wie es sein kann, dass die israelische Armee seit drei Wochen pausenlos attackiert und bombardiert, die Hisbollah aber immer noch munter Katjuscha-Raketen abschießt. Am Sonntag waren es 140, so viele wie noch nie an einem einzigen Tag seit Kriegsbeginn. Da kommen selbst in den eigenen Reihen Zweifel auf, ob diese Schlacht überhaupt gewonnen werden kann.

Zum anderen unterlaufen der israelischen Armee in jüngster Zeit erschreckend viele Fehler. Gerade erst sind die Bilder von der palästinensischen Familie am Strand von Gaza verblasst – für deren Tod die israelische Armee allerdings keine Verantwortung übernommen hat –, da schockieren bereits die nächsten Aufnahmen blutender Kinder die Weltöffentlichkeit. „Für die öffentliche Meinung sind nur die Bilder der Zerstörung entscheidend, nicht die Gründe dafür“, klagt ein Armeevertreter.

Ministerpräsident Ehud Olmert und Außenministerin Zipi Livni entschuldigten sich mehrfach und betonen gebetsmühlenartig, Israel nehme – anders als die Hisbollah – Zivilisten nicht ins Visier. Sie seien bedauerlicherweise getroffen worden, weil die Terrororganisation sich hinter ihnen verstecke. Doch einige Kommentatoren stellen nun offen die Frage, „ob wir nicht zu schnell abdrücken“. Wenn man nicht wolle, dass die Mehrheit der Libanesen so extrem werde wie die Hisbollah, „wäre es am besten, wenn wir von Zeit zu Zeit auf das Bomben von Zielen verzichten, bei denen wir nicht sicher sind“, so Militärexperte Amir Rapaport in der Tageszeitung Ma’ariv.

Arabische Abgeordnete der Knesset beschimpften in einer turbulenten Sitzung gestern Verteidigungsminister Amir Peretz lauthals als „Kindermörder“. Nach dreimaliger Warnung musste die Parlamentspräsidentin Dalia Itzik die Zwischenrufer aus dem Saal entfernen lassen, damit Peretz überhaupt weiterreden konnte. „Die ganze Welt muss wissen, dass wir uns die militärische Option nicht ausgesucht haben“, so Peretz, Chef der Arbeitspartei und ehemaliger Gewerkschaftsführer. Israel habe den Libanon vor sechs Jahren geräumt und würde trotzdem attackiert. „Wir können nicht länger unsere Augen verschließen.“ Daher müsse das israelische Militär nun noch intensiver gegen die Hisbollah vorgehen.