UNTER KUNSTINTERESSIERTEN
: Echter Widerstand

Das ist meine Chance. Ich remple jeden einzelnen Stuhl an

Das durch die Fenster scheinende Licht hat den Bürgersteig in eine sepiafarbene Kulisse verwandelt. Drinnen in der Galerie standen die Kunstinteressierten eben noch in routinierter Cocktailpartyhaltung: den Körper nur halb dem Gesprächspartner zugewandt, dabei einerseits ein subtiles Desinteresse am Gegenüber und andererseits ein allgemeines Interesse am Gesamtgeschehen signalisierend. Ich bin zu spät. Der Gegenwartserklärer Harald Welzer hat bereits begonnen, zur Frage „Was ist Widerstand?“ zu referieren.

Noch im Stehen erfahre ich, dass der Konzeptkünstler Andreas Slominski einst mit einem Lkw in eine Galerie fuhr, um den einzigen darin transportierten Gegenstand, einen Golfball, aus dem Anhänger rollen zu lassen. Das Publikum kichert. Welzer bleibt ernst. Das Werk besteche vor allem durch die „Diskrepanz zwischen Aufwand und Resultat“.

Ich beschließe, die kurze Pause zu nutzen, um mir einen Sitzplatz zu suchen, und schreite unter prüfenden Blicken zur einzigen noch unbesetzten Stuhlreihe. Doch der Versuch, möglichst unauffällig zu sein, scheitert. Die Reihen sind so eng, dass ich den ersten Stuhl fast umstoße. Lautes Kratzen hallt durch den Raum. Durchdringendes Starren.

Typisch, denke ich, unterdrücke jedoch schnell meinen Verlegenheitsreflex. Das ist meine Chance, die Situation mit geringem Aufwand in eine thematisch passende Performance, oder besser: soziale Plastik zu verwandeln. Um den Platz ganz hinten zu erreichen, remple ich jeden einzelnen Stuhl an und entgegne stur den strafenden Blicken: Das ist Widerstand! Widerstand gegen repressive Höflichkeitsnormen, gegen die Konformität im öffentlichen Raum.

Welzer fährt unbeirrt fort. Diese künstlerische „Verhöhnung von Effizienz“, sagt der Philosoph und macht eine Kunstpause, als wolle er mich belehren, dies sei „gerade heute echter Widerstand“. PHILIPP RHENSIUS