Verwaister Wall

Vor 50 Jahren wurde das Zentralstadion in Leipzig eingeweiht. Aus der Riesenschüssel von einst ist eine kaum genutzte Fußballarena geworden

Schon kurz nach der Wende wurden die Tribünen der Natur überlassen

VON KARL HÜBNER

Fünf WM-Spiele haben Leipzig noch einmal zur Fußballstadt gemacht. Vorbei. Viele fußballbegeisterte Leipziger sind wieder auf ihre Erinnerungen zurückgeworfen – zum Beispiel an den 22. April 1987. Da gastierte Girondins Bordeaux im Zentralstadion. In einem denkwürdigen Elfmeterschießen besiegte Lok Leipzig die Gäste mit 6:5 und zog ins Finale des Uefa-Pokals ein.

Die Zentralstadion-Chronik weist 73.000 Zuschauer aus, aber es ist ein offenes Geheimnis, dass die Ordner vor dem Ansturm der Fans kapitulierten und immer mehr Zuschauer einließen. Bis auf den letzten Platz war die Schüssel gefüllt. Das bedeutete: 100.000 Zuschauer, mit einem Sitzplatz für jeden. Die Stehplätze auf der umgebenden Dammkrone des Wallstadions noch gar nicht mitgerechnet. In Sachen Fassungsvermögen war das Leipziger Zentralstadion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das größte Stadion auf deutschem Boden.

Am 2. August 1956, vor nunmehr 50 Jahren, wurde es feierlich eröffnet: im Rahmen des 2. Turn- und Sportfestes der DDR. Zuvor war es innerhalb von 15 Monaten nach den Plänen des Leipziger Architekten Karl Souradny errichtet worden. Über 180.000 freiwillige Helfer leisteten mehr als 730.000 Arbeitsstunden. Das Stadion war als Wallstadion konzipiert. Hauptbestandteil des Damms war Trümmerschutt aus dem Zweiten Weltkrieg. Es konnte also gar nicht genug Hände geben, um die 1,5 Millionen Kubikmeter Schutt an die richtige Stelle zu bringen. Am Ende war der Wall 23 Meter hoch und an der höchsten Stelle gut 900 Meter lang.

„Dieses Werk wurde möglich, weil die Arbeiter und Bauern bei uns die Macht haben, es wurde erst in der DDR möglich. Unser Glückwunsch den Erbauern am heutigen Tage.“ So verkündete es der damalige Vorsitzende des Staatlichen Komitees für Körperkultur und Sport, Manfred Ewald, anlässlich des Richtfestes des Stadionhauptgebäudes im April 1956.

Noch im Eröffnungsjahr sollte das Rund sich weitere Male füllen, nicht nur im Rahmen der Eröffnung. Der 6. Oktober 1956 war so ein Tag. Geschätzte 115.000 wohnten der 3:5-Niederlage von Wismut Aue gegen den 1. FC Kaiserslautern bei. Auch wenn ein Filmdokument fehlt, noch heute ist das Hackentor von Fritz Walter vielen Leipzigern ein Begriff. Walter hatte sich einfach nach vorne fallen lassen und den Ball dann mit der rechten Hacke über den eigenen Kopf ins rechte Eck geschossen. Im November folgte ein zweites innerdeutsches Duell: Lok Leipzig unterlag dabei Schalke 04 mit 1:3. Viele Fans mussten draußen bleiben – das Stadion der Hunderttausend, es war an diesem Abend zu klein.

Ein volles Zentralstadion sollte freilich die Ausnahme bleiben. Zwar wurden bei Länderspielen im Jahr 1957 gegen Wales und die ČSSR auch mehr als 100.000 Zuschauer registriert. Aber selbst im September 1973, als die DDR mit einem 2:0 gegen Rumänien die Tür zur WM-Teilnahme 1974 in Westdeutschland weit aufstieß, blieben 5.000 Plätze frei. Und auch im DDR-Vereinsfußball gab es nur wenige Male ein volles Haus. Ohnehin trugen die lokalen Größen, Lokomotive Leipzig und Chemie Leipzig, die meisten Heimspiele in ihren eigenen, kleineren Stadien aus.

Nach der Wende wurde aus den DDR-Oberliga-Vereinen Lokomotive und Chemie Leipzig der VfB beziehungsweise der FC Sachsen Leipzig. Für kurze Zeit gab es sogar Bundesligafußball im Zentralstadion zu sehen – doch da waren große Teile des Stadions schon baufällig und gesperrt. Und als der sportliche Niedergang begann, zog der VfB zur Zweitligasaison 1995/96 ganz um ins kleinere Bruno-Plache-Stadion. Von da an wurden die Tribünen der Natur überlassen. Schon bald wucherte es zum Teil mannshoch zwischen den erodierenden Sitzreihen. Für den Erhalt der Tribünen hatte die Stadt kein Geld. Einmal noch drängten sich viele Menschen im Stadion – zum Abschlusstag des Evangelischen Kirchentages 1997. Danach drehten nur noch Leichtathleten ihre Trainingsrunden. Aus den Rängen sprossen Gräser und Kräuter.

Kurz nach der Jahrtausendwende rückten dann die Bautrupps an und begannen mit dem Rückbau der Legende. Und dann floss Geld, auch aus Töpfen der Bundesregierung. Leipzig, die Wiege des Deutschen Fußballbundes und Heimat des ersten Deutschen Fußballmeisters, sollte zur WM 2006 ein neues Stadion bekommen. Binnen weniger Jahre wurde – in das alte Zentralstadion hinein – eine für die heutige Zeit klassische Arena mit Dach und 18 VIP-Logen, dafür ohne Laufbahn, hineingesetzt. Fassungsvermögen: knapp 45.000. 116 Millionen Euro hat der Stadionbau gekostet.

Dass es zum Eröffnungsspiel nicht richtig voll wurde, lag am sportlichen Rahmen. Der FC Sachsen war drittklassig, als er im März 2004 die Amateure von Borussia Dortmund empfing. Immerhin kamen 28.000 Interessierte. Inzwischen spielt der FC Sachsen eine Liga tiefer.

Und der Lok-Nachfolger VfB? Der meldete vor zwei Jahren Insolvenz an und schied komplett aus dem Spielbetrieb aus. Findige Leute arrangierten die Neugründung eines 1. FC Lokomotive Leipzig, der zur Saison 2004/05 den Spielbetrieb in Liga 11 aufnahm. Seitdem versucht die Mannschaft, durch sportliche Aufstiege und strategische Fusionen möglichst schnell wieder in höhere Sphären zu gelangen. Einmal zog man spaßeshalber ins neue Zentralstadion. 12.241 Fans wohnten dem 8:0 gegen die zweite Mannschaft von Eintracht Großdeuben bei.

„Mit dem Stadion sollte etwas für die Zukunft, etwas für die Jugend geschaffen werden.“ Das war das Motto der 50er-Jahre, wie sich der Fechter Albert Gipp, einer der Bauhelfer, noch 1994 gegenüber der Leipziger Volkszeitung erinnerte. Und heute? Stadien sind derzeit vor allem Orte von Event-Inszenierungen. Sie müssen Geld einspielen. Das gilt auch für Kinowelt-Gründer Michael Kölmel, den Betreiber des Zentralstadions. Die WM ist vorbei, die Olympia-Bewerbung längst gescheitert. Da dürfte auch die Austragung des Deutschen Ligapokalfinales am 5. August nur ein vorübergehender Trost für die sporthungrige Gründungsstadt des Deutschen Fußballbundes sein.