Es ist leicht, Eltern, die ihren Kindern Ritalin geben, zu sagen, dass sie schlechte Eltern sind. Vor allem, wenn man nichts über ihr Leben weiß
: Unterstellungen

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Als ich mich einmal für eine Geburt im Krankenhaus anmeldete, musste ich mich entscheiden, ob ich eine PDA (Periduralanästhesie) unter der Geburt von vornherein ausschließen möchte. Ich wurde über mögliche Nebenwirkungen informiert, die von Meningitis über Querschnittslähmung bis zum Herzstillstand reichten. Ich unterschrieb für die PDA, weil ich nicht wusste, wie eine Geburt sein würde. Wie eine Geburt ist, wusste ich dann und ich hätte eigentlich jedes schlimme Mittel genommen, das mir zur Verfügung gestanden hätte, wenn ich dieser Hölle hätte entrinnen können.

Das dazu und jetzt zu den Leuten, die meinen, sie könnten anderen Leuten, die Probleme haben, die sie selber nicht haben, sagen, wie man damit umzugehen hat. In Hamburg wird, wie es ans Licht gekommen ist, jede Menge Ritalin verschrieben. Hamburg ist trauriger Spitzenreiter in Ritalinverschreibung an Kinder.

Vermutlich wird voreilig mit der Diagnose ADHS umgegangen und vermutlich wollen einige Eltern diese Diagnose gerne hören, weil sie dann die Möglichkeit einer Problemlösung in Form eines Medikamentes vor sich sehen, und vermutlich verschreibt der eine oder andere Arzt recht sorglos eben dieses Medikament. Das verurteile ich aufs Schärfste. Aber das ist nicht mein Thema. Mein Thema sind die Leute, die urteilen, wo sie keine Ahnung haben.

Ich bin keine Betroffene, das vorweg. Aber ich habe mich noch vor der Geburt für die Möglichkeit einer PDA entschieden, ich wollte dieses Hilfsmittel nicht ausschließen, obwohl ich wusste, dass es immerhin Risiken in sich birgt. Eine Menge Medikamente, fast alle, haben Nebenwirkungen. Antibiotika sind nicht ungefährlich. Aber wenn das Kind vereiterte Ohren hat und nachts bitterlich weint, dann geben wir sie ihm und wir geben ihm noch Schmerzmittel obendrauf, denn wir können die Schmerzen unserer Kinder nicht ertragen.

Niemand rügt uns deshalb. Aber Leute, die ihrem Kind Ritalin geben, wird unterstellt, sie würden ihr Kind ruhigstellen. Es wird ihnen unterstellt, sie würden es sich leicht machen wollen. Sie würden sich nicht genug Zeit nehmen. Sie wären, schlussendlich, keine guten Eltern.

Dazu habe ich Folgendes zu sagen: Ich kannte ein Kind mit ADHS, und so ein Kind ist nicht einfach ein unruhiges Kind, die Bewegung an der frischen Luft und das gesunde Frühstück richten die Probleme nicht, und wer so etwas glaubt, hat nicht nur keine Ahnung, er ist auch überheblich und dumm. Natürlich hatten die Kinder früher mehr Bewegung, natürlich saßen sie nicht so lange in der Schule und am Computer, natürlich sieht die heutige Kindheit in einer Großstadt wie Hamburg anders aus als die Kindheit unserer Großeltern auf dem Lande in Ostwestfalen.

Einem Kind mit ADHS wäre da ganz anders geholfen worden als heute, nämlich mit dem Riemen. Wer einmal miterlebt hat, wie schwierig die Kindheit für ein ernsthaft betroffenes Kind und dessen Eltern verläuft, wie ausgegrenzt es ist, wie es zu keinem Kindergeburtstag eingeladen, in keinem Sportverein geduldet wird, zu keinem Schulausflug mitfahren darf, nur der begreift vielleicht annährend, welchem Leidensdruck auch sehr gute, aber in manchen Fällen hilflose Eltern ausgesetzt sind. Solche, die es sich vielleicht gar nicht leicht mit der Entscheidung für ein Medikament gemacht haben, von dem sie sehr wohl wissen, welche Nebenwirkungen es hat. Solche Probleme führen zu anderen Problemen. Soziale Ausgrenzung hat auch Nebenwirkungen, heftige Nebenwirkungen, die auch sehr krank machen können.

Ich bin nicht für Ritalin. Ich habe meinen Kindern noch nie Antibiotika gegeben, ich lehne Medikamente in den meisten Fällen ab, sowohl für mich als auch für meine Kinder, aber ich stelle mich nicht über Menschen, die sich in einer Situation befinden, die ich nicht kenne.Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen