Der Kinoabend meines Lebens

FILMSTARS Kein einziges Berliner Kino wirft anlässlich des Todes von Philip Seymour Hoffman und Shirley Temple sein Programm über den Haufen. Früher machten Kinos so etwas noch: Erinnerung an einen gloriosen Abend im Charlottenburger Filmkunst 66

Gene Kelly dringt zur Essenz des Musicals vor: Bewegung, Tanz, Sieg über die Materie

VON TILMAN BAUMGÄRTEL

Letzte Woche ist Philip Seymour Hoffman gestorben, am Montag Shirley Temple. Er einer der besten amerikanischen Filmschauspieler der Gegenwart, sie der erste Kinderstar Hollywoods. Und kein Berliner Kino nimmt davon Notiz, indem es sein vorgeplantes Programm über den Haufen wirft und sich stattdessen irgendetwas Besonders zum Ableben dieser beiden Mimen einfallen lässt. Na gut, Shirley Temple interessiert heute vielleicht niemanden mehr. Aber einen Abend mit Ausschnitten aus Filmen mit Philip Seymour Hoffman, der meist in Nebenrollen brillierte? Den würde ich mir sofort ansehen.

Darum sei hier an ein Kinoereignis erinnert, das sich in Berlin abspielte, als vor fast zwei Jahrzehnten ein Star starb, der Philip Seymour Hoffman nicht nur in Sachen körperlicher Flexibilität weit übertraf: Gene Kelly. Genau, der aus „Singin’ in the Rain“ und „Ein Amerikaner in Paris“.

Als Kelly 1996 verschied, war ich gerade ein knappes Jahr in Berlin, hatte keine Ahnung, aber als Doktorand viel Zeit und las daher mit religiöser Hingabe die kleingedruckten Veranstaltungshinweise in der Zitty. So wurde ich auf eine einmalige Nachtvorstellung im Filmkunst 66 in Charlottenburg aufmerksam, die zu besuchen mir unbedingt geboten schien: ein Filmabend mit den besten Tanzszenen aus Gene Kellys Filmen aus Anlass seines Todes.

Es war der beste Kinobesuch meines Lebens. Ich und ein knappes Dutzend anderer Gestalten im Halbdunkel des Filmtheaters sahen ein zweistündiges Feuerwerk von Szenen, die bewiesen, dass Gilles Deleuze damit recht hat, dass der kinematografische Akt darin besteht, „dass der Tänzer selbst in den Tanz eintritt, so wie der Träumer in den Traum“. Bei Kellys speziellem Tanzstil, heißt es in Deleuzes Kino-Buch weiter, „senkt sich der Schwerpunkt in die senkrechte Linie eines dichten Körpers, um aus dem Innern die Gliederpuppe zu befreien und hervorzuholen, die der Tänzer ist“. Genauso ist es! Das durfte ich in dieser denkwürdigen Nacht im Filmkunst 66 erleben.

Um die Besonderheit dieser Veranstaltung zu verstehen, muss man sich daran erinnern können, dass es einmal eine Zeit ohne DVDs und ohne Filmstreaming via Internet gab. Die wundervollen Menschen vom Filmkunst 66 hatten es geschafft, in kürzester Zeit die wichtigsten Filme mit Gene Kelly in 35-Millimeter-Kopien bei deutschen Filmverleihen zusammenzusuchen. Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, hatten sie das Programm komplettiert mit Videosequenzen, die sie höchstwahrscheinlich aus dem Fernsehen auf VHS-Kassetten mitgeschnitten hatten – ja, das gab es damals in Ermangelung von Festplattenrekordern und Mediatheken im Internet noch.

Und all das nur, um mir zwei Stunden lang den Kopf damit zu verdrehen, wie Gene Kelly von Massenchoreografien zu Solonummern und schließlich zur reinen Essenz des Musicals vordrang: Bewegung, Tanz, Levitation, schließlich freier Flug und finaler Sieg über die Materie. Ganz ohne überflüssige Ablenkung durch Narration oder die Gesetze der Schwerkraft.

Heute kann sich jeder Internetnutzer die einschlägigen Szenen in ein paar Minuten bei YouTube herbeisurfen. Damals war es eine logistische Meisterleistung, die mir rückblickend den größten Respekt vor den Cineasten einflößt, die in ein paar Tagen diese Ausschnitte zusammengetragen, gesichtet, kuratiert und vorgeführt haben. Keine Ahnung, wer dahinter steckte. Auf jeden Fall möchte ich mich bei den Veranstaltern für diesen Bombenabend mit fast zwei Jahrzehnten Verspätung und unbekannterweise bedanken.

Und ich möchte mich beim Internet dafür bedanken, dass es diese Art von Arbeit zu einer Angelegenheit von ein paar Mausklicks gemacht hat. Über deren Resultat man – ohne den sozialen Kontext eines Kinopublikums – am Tablet auf der Couch wegdämmern kann. Das mag zwar bequem und inzwischen auch von akzeptabler Bildqualität sein. Aber wenn man einmal Kinokultur in der beschriebenen Art erlebt hat, erscheint es einem letztlich doch als eine etwas traurige Angelegenheit.