Die angemaßte Opferrolle

ESSAY Die deutsche Gedenkkultur ist sinnentleert und lebt von einer gefühlten Identifikation mit den Opfern, klagen die Historikerin Ulrike Jureit und der Psychoanalytiker Christian Schneider. Ihre Analyse ist durchaus überzeugend, sie greift dennoch zu kurz

Der Prozess der Verdrängung war es, gegen den viele der späteren 68er ankämpften

VON CHRISTIAN SEMLER

Zwar gilt unter Kids mit „Migrationshintergrund“ die Anrede „Du Opfer“ als eine der denkbar übelsten Beleidigungen. Nimmt man hingegen die politischen Diskurse in der Erwachsenenwelt, so scheint es fast, als gäbe es einen allgegenwärtigen Run auf die Opferrolle. Denn während bei Kids der Anwurf, Opfer zu sein, eine schwere Kränkung ihres Selbstwertgefühls darstellt, ist die Opferrolle, sei es für gesellschaftliche oder politische Gruppen, sei es für ganze Nationen, mit einer wertvollen Prämie verbunden: die der Anerkennung, samt deren legitimatorischer Wirkung für moralische und ökonomische Ansprüche.

Opfer wollen bei uns nach wie vor die Vertriebenenverbände sein, weil das Leid der Flüchtlinge und Vertriebenen in Deutschland nie hinreichend gewürdigt worden sei. Es mangelt auch nicht an allerdings ergebnislosen Versuchen, die deutschen Bombenopfer des Zweiten Weltkrieges nachträglich mit dem kollektiven Opferstatus zu versehen. Dies mit der (nachweislich falschen) Begründung, es habe ein Schweigegebot über deren Schicksal gegeben. Jüngst wurden sogar die deutschen Kriegskinder wegen des Verlusts des Vaters, zerrütteter Familienverhältnisse und des Nachkriegselends allgemein mit der Opferrolle versehen.

Die logische Folge aus diesem Sachverhalt ist die Konkurrenz der Opfer. Dabei wird zwecks Steigerung des eigenen Anspruchs häufig argumentiert, die an der eigenen Gruppe verübten Untaten glichen dem Mord an den europäischen Juden oder überstiegen den Holocaust sogar. Darin drückt sich die Tendenz aus, den Holocaust aus seinem historischen Kontext zu lösen, ihn zu einer bloßen, zunehmend sinnentleerten Metapher zu degradieren.

In der deutschen Erinnerungskultur wird, wie das Beispiel des Mahnmals für die ermordeten Juden in Berlin zeigt, demgegenüber gerade der historischen Einmaligkeit des Judenmordes gedacht. Aber wie vollzieht sich dieses Gedenken, wie geht insbesondere das offizielle Deutschland mit ihm um, und welche Formen des Erinnerns werden praktiziert?

Diesen Fragestellungen widmet sich ein Doppelessay der Historikerin Ulrike Jureit und des Psychoanalytikers Christian Schneider, der unter dem Titel „Gefühlte Opfer“ dieser Tage erschienen ist. Ein gedankenreicher, oft scharfsinniger Versuch, dessen zugespitzte, pointiert vorgetragene Thesen allerdings mehr als einmal zum Widerspruch herausfordern.

Jureit wie Schneider attestieren der offiziellen deutschen Gedenkkultur übereinstimmend, dass sie in erstarrten, sinnentleerten Formen vor sich geht. Ihr Kern bestünde in einer gefühlten Identifikation mit den Opfern. Die Erinnerung vollziehe sich nach strengen Normen, von denen keine Abweichung geduldet werde.

Die Weizsäcker-Rede

In einer überzeugenden Analyse weist Jureit nach, dass in der berühmten Weizsäcker-Rede von 1985 eine falsche Grundauffassung stecke. Denn der von Weizsäcker zitierte Satz, „das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung“, werde seiner religiösen Einbindung entkleidet. Ein religiöses Heilsversprechen werde in ein „säkulares System der Vergangenheitsbewältigung“ transformiert. Ganz so, als ob bei richtiger Erinnerung Erlösung von Schuldgefühlen winke.

Jureit wie Schneider sehen das Hauptproblem offiziösen Gedenkens in dem Versuch, sich mit den jüdischen Opfern so zu identifizieren, dass man selbst an deren Opfertum teilhat, letztlich selbst zum Opfer wird.

Als Urheber dieses Manövers machen beide Autoren die auf die Täter folgende „zweite Generation“ aus, kurz gesagt: die 68er. Denn diese hätten sich mit den jüdischen Opfern in einer Weise identifiziert, die sie selbst zu „gefühlten“ Opfern zweiter Ordnung gemacht hätte. Dadurch seien die Väter summarisch als potentielle Mörder abgestempelt worden, sie selbst aber hätten sich auf die Seite der Guten angesiedelt. Das „Leiden an der Geschichte“ sei bei der „zweiten Generation“ zu einer Attitüde verkommen. Und zu einer permanenten Anklage, deren Urteil von vornherein feststand.

Das klingt zunächst einleuchtend. Anders lässt sich die ursprüngliche Identifikation vieler späterer 68er mit linken jüdischen Intellektuellen, vor allem denen der „Frankfurter Schule“, nicht erklären. Die allgemeine Verehrung Walter Benjamins und die Identifizierung mit seinem Schicksal sind ein schlagendes Beispiel.

Aber Jureits und Schneiders Analyse verwendet einen vollkommen statischen, aller geschichtlichen Entwicklung entkleideten Generationenbegriff.

Wie ist mit Jureit und Schneider zu erklären, dass im Gefolge von 68 eine aktivistische, hochgemute, von Selbstermächtigung geprägte Haltung dominierte, die sich nicht mehr als Opfer imaginierte und in die Gemeinschaft toter jüdischer Opfer einschmuggeln wollte? Die sich nicht mehr mit der heroischen Niederlage der linken jüdischen Intellektuellen identifizierte, sondern sich eins fühlte mit dem Vormarsch der revolutionären Kräfte in der Dritten Welt? Stand 68 nicht gerade im Zeichen der Konfrontation mit den alten Idolen?

Ebenso wenig überzeugend ist Jureits und Schneiders These, das „gefühlte Opfer“ hätte sich kraft der Kommunikationsgemeinschaft der 68er auf alle Vertreter dieser Generation unabhängig von ihrer politischen und kulturellen Orientierung übertragen und die Zwangsidentifizierung sei so zum herrschenden Ritual der Erinnerungskultur aufgestiegen. Die 68er Erinnerungseliten hielten nach Jureit und Schneider das Zepter fest in der Hand, sie wachten über der Moralisierung, Pädagogisierung und Dramatisierung des Gedenkens. Für die These der generationellen Kommunikationsgemeinschaft des falschen Gedenkens gibt es keinen Beleg, nicht einmal ein klitzekleines Zitat.

Es stimmt, das offiziöse Erinnern hat einen hysterischen Grundzug und die Fehlleistungen der Offiziösen, von Schneider überzeugend untersucht, sind Ausdruck dieser Hysterie. Aber rührt sie nicht daher, dass die offizielle Gedenkkultur ganz unabhängig von einer 68er-Ableitung davon lebt, die Täter summarisch dem Reich des Bösen zuzurechnen, sie zu entpersonalisieren und sich damit die Frage zu ersparen, warum die Generation der Täter Hitler mit solcher Inbrunst anhing?

Sinn der Trauer

Es war Alexander Mitscherlichs Anspruch, in seinem Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“ diese Frage zu klären. Schneider legt überzeugend dar, dass Mitscherlich die Trauer, die stets auf Lösung vom verstorbenen Liebesobjekt gerichtet ist, mit der Erinnerung identifiziert und damit den Sinn der Trauer verfehlt. Schneider argumentiert so, weil er die „Gefühlte-Opfer-Mentalität“ der offiziellen Gedenkfeiern in der Tradition dieser falschen Auffassung von Trauer sieht. Denn auch das offiziöse Gedenken habe mit Trauer nichts zu tun, sondern mit Pseudoidentifizierung. Mit dieser Kritik ist Mitscherlichs Erklärung, die „Tätergeneration“ habe die Nazizeit kollektiv ungeschehen machen wollen, um sich nicht dem Verlust des narzisstischen Objekts, also Hitler, stellen zu müssen, nicht wertlos gemacht. Es war gerade dieser Prozess der Verdrängung, gegen den viele der späteren 68er ankämpften. Dass sie dabei oft in eine inszenierte Pose verfielen und sich in die Tradition der verfolgten Linken der 30er Jahre stellten, macht sie allerdings nicht zu kollektiven Vertretern einer Gefühlten-Opfer-Mentalität.

8. August 2010, ein sonniger Nachmittag. Auf den niedrigeren Stelen am Rande des Berliner Mahnmals lagern Touristen, ruhen sich aus, nehmen einen kleinen Imbiss. Kids hüpfen trotz Verbots von Stele zu Stele, zahlreiche Paare lassen sich mit einer Stele als Hintergrund ablichten, die Kleinen spielen Versteck und kreischen.

Kurz gesagt, ein Ort, an den man gerne hingeht. Von Bedrückung, vom Gefühl der Ausweglosigkeit, das der Bevölkerung mit dem Mahnmal angeblich von der Generation der Zwangsidentifizierer aufgedrückt werden sollte, keine Spur. Was bedeutet das? Jureit und Schneider haben recht, allerdings mit einer falschen Begründung. Die ganze aufgeladene offiziöse Gedenkkultur verfehlt ihr Ziel. Im letzten Teil ihrer Essays skizziert Schneider, wie wir es schaffen könnten, die Täter und ihre Opfer nicht in imaginierten Bildern, sondern in ihrer Realität zu verstehen. Wie wir uns selbst verändern müssen, um endlich trauern zu können. Dies ist der sehr abstrakte, aber produktive Abschluss einer Arbeit, die hoffentlich zünden wird.

■ Ulrike Jureit, Christian Schneider: „Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheit“. Klett-Cotta, Stuttgart 2010, 253 S., 21,95 Euro