Unterhalb der Nachweisgrenze

ORTSTERMIN Die frühere Sängerin der No Angels, Nadja Benaissa, steht vor Gericht, weil sie einen 34-Jährigen mit HIV infiziert haben soll. Die Wahrheit herauszufinden wird schwierig

Der Kläger ist außer sich. Er will das Leid, das ihm angetan wurde, „da rüberschieben“

VON WALTRAUD SCHWAB

Nadja Benaissa, bis vor Kurzem Sängerin der Band No Angels, wirkt gefasst und aufgeräumt, als sie den Saal 3 im Amtsgericht Darmstadt betritt. Ihre wallenden Haare hat sie nach hinten gebunden. Das auberginefarbene Hemd, die Jeans, das ebenmäßige Gesicht – alles wirkt klar. Die Scheinwerfer, die Kameras, die auf sie gerichtet sind, hält sie aus. Nachdem sie von der Staatsanwaltschaft als HIV-positiv geoutet wurde, nachdem der Prozess eröffnet wurde, in dem ihr vorgeworfen wird, einen Mann infiziert zu haben, gibt es sowieso kein Zurück in die Anonymität.

In fünf Fällen soll Benaissa laut Anklage in den Jahren 2000 bis 2004 Sex mit Männern gehabt haben, ohne ihnen von ihrer HIV-Infektion zu berichten. Bei einem davon soll es zu einer Ansteckung gekommen sein. Wer HIV-positiv ist, ist verpflichtet, dies seinem Sexualpartner mitzuteilen. Sonst gilt es als versuchte gefährliche Körperverletzung. Kommt es zu einer Infizierung, ist es gefährliche Körperverletzung.

Zu Beginn des Prozesses lässt die heute 28-Jährige marokkanischer Herkunft eine Erklärung durch ihren Rechtsanwalt verlesen: Sie habe 1999, mit 17 Jahren, während ihrer Schwangerschaft erfahren, dass sie HIV-positiv ist. Die Ärzte hätten ihr versichert, dass das Ansteckungsrisiko gering sei, wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt.

Sie habe auf das Benutzen von Kondomen geachtet, aber auf Partys mit Alkohol nicht immer. Als sie dann zur Band No Angels gehörte, wurde zusätzlich Druck auf sie ausgeübt, ihre Infektion geheim zu halten, denn ein Outing, so sah es das Management, hätte das Ende der Band bedeutet. Dass sie anderen Leid zugefügt habe, bedauert sie.

Die anschließende Befragung durch den Richter beleuchtet Benaissas Jugend. Sie geht aufs Gymnasium, bereits als 13-Jährige konsumiert sie Alkohol, Marihuana, vierzehnjährig auch Crack. Sie wird süchtig, lebt zwei Jahre auf der Straße, wird schwanger, steigt aus, wird clean, ist infiziert, bringt 1999 eine Tochter zur Welt. Per Kaiserschnitt, damit das Kind nicht angesteckt wird. Sie kommt nach der Geburt wieder ins Gleichgewicht, geht auf die Abendrealschule, ist Klassenbeste und gerät 2000 vor dem Schulabschluss ins Casting. Bald ist sie Mitglied einer Girl Group. „Dann war das Leben nicht mehr wie vorher.“

Natürlich will sie Sängerin werden, ihrer Tochter etwas bieten – sagt sie. Die Infektion versucht sie auszublenden. Doch das Gerücht kursiert. Schon 2001 stellt ihr „eine große deutsche Zeitung“ ein Ultimatum. Sie soll ein Attest ihrer Tochter vorlegen, oder ihre eigene Infektion werde öffentlich gemacht. Sie lässt sich nicht erpressen.

Irgendwann 2004 kommt es zum Geschlechtsverkehr mit einem Künstlerbetreuer. Eine Gelegenheitsnummer.

Der erfährt 2007, dass er HIV-positiv ist. Für ihn ist klar: Sie war’s. Er nennt sie nur: „die junge Dame“. Der Kläger, ein 34-Jähriger mit gegeltem, zurückgekämmtem Haar und Kapuzenpulli, ist außer sich. Er will das Leid, das ihm angetan wurde „da rüberschieben“. Er zeigt auf Benaissa. „Mit dem Brocken muss sie dann rumlaufen.“

Wieso er so sicher ist, dass sie ihn infiziert hat, bleibt an diesem ersten Prozesstag unklar. Er ist kein Abstinenzler, was Sex angeht. „Man trinkt was, man trifft sich.“ Kondome? Teils, teils. Wenn Verhütung ein Thema ist, von wem geht das aus? „Ein Mann macht das schneller“, sagt er. Da lacht das Publikum.

Der Versuch, sich mit dem Ankläger außergerichtlich zu einigen, ist misslungen, sagen die Rechtsanwälte. Der Kläger habe bereits 2007 verlangt, dass sie sich outet und 100.000 Euro an die Aidshilfe bezahlt. Zu einem Zeitpunkt, als Benaissa, die heute ohne Schulabschluss dasteht und deren Beruf „freischaffende Künstlerin“ ist, schon insolvent war.

So weit der Prozess, der gerade erst angefangen hat. Die Wahrheitsfindung wird schwierig. Ob es am Ende überhaupt eine Wahrheit gibt, ist unklar. Erkenntnisse allerdings wird es geben. Darüber, wie schwierig ein Leben für ein junges Mädchen aus multikulturellem Milieu sein kann, wie gnadenlos die Musikindustrie ist und wie verhandelbar der Körper.