Ignoranz und Würde

Die Liebe, der Hass und der ewig schwelende, unlösbare Konflikt in Nahost: Yasmina Khadras Roman „Die Attentäterin“

VON JÜRGEN BERGER

Eigentlich gehört Amin Jaafari zu den zwanzig Prozent israelischer Staatsbürger arabischer Herkunft, die sich in einem Leben dritter Klasse einrichten müssen, egal ob sie in Tel Aviv im Restaurant arbeiten oder am Rande der Negev als Beduinen ihre Zelte aufschlagen. Er aber hat es in der israelischen Gesellschaft geschafft, er ist Arzt geworden, und doch muss er eines Tages erleben, was es heißt, als assimilierter Palästinenser in Israel zu leben. Alles beginnt mit einer Attentäterin, die sich in einem Restaurant in Tel Aviv in die Luft sprengt. Jaafari, der den ganzen Tag Opfer des Attentats operiert hat, gerät nach dem Dienst selbst unter Terrorverdacht, obwohl der Karrierechirurg zu den „Brüdern“ im Westjordanland und zu seiner Sippe so gut wie keinen Kontakt mehr hat. Er ist kein „vollwertiger“ Israeli, also wird er auf dem Heimweg in mehreren Polizeikontrollen so gedemütigt, dass er schon da zweifeln müsste, ob sein Leben nicht doch auf einer großen Lüge fußt.

Die Strecke vom Hospital zu seinem Haus ist allerdings nur das erste Stück eines Leidensweges, den der in Paris lebende algerische Autor Yasmina Khadra dem Protagonisten seines neuen Romans „Die Attentäterin“ zumutet. Khadra heißt eigentlich Mohammed Moulessehoul und schreibt seit Jahren unter dem Namen seiner Frau. Achtzehn Romane hat er bislang veröffentlicht. Vor sieben Jahren erschien „Wovon die Wölfe träumen“, in dem Khadra, ehedem ranghoher Offizier der algerischen Armee, den Weg eines jungen Mannes in den fundamentalistischen Untergrund beschreibt.

„Die Attentäterin“ schließt thematisch an diesen Roman an. Nach dem Selbstmordattentat ändert sich Jaafaris Leben grundlegend. Er wird zum Outcast, gerät völlig aus der Spur und stürzt aus der Höhe einer fast übernatürlichen Liebe zu seiner Ehefrau Sihem in den Abgrund eines vermeintlichen Treuebruchs. Denn kaum ist er in seinem Nobelviertel-Domizil angekommen, wird er zurück ins Krankenhaus gerufen, um dort eine zerfetzte Frauenleiche zu identifizieren. Es ist Sihem. Und als sei das nicht genug, soll sie auch noch die Selbstmordattentäterin gewesen sein. Kannte er die Frau wirklich, die jahrelang scheinbar so glücklich an seiner Seite lebte? Führte sie wirklich ein zweites Leben als heilige Kämpferin für die Sache des palästinensischen Volkes?

Jaafari wird nun zu einer Figur, mittels derer Khadra die ideologischen Verwerfungen des Nahen Ostens reflektiert, bis in die Feinstrukturen palästinensischer Terrororganisationen hinein. Der erfolgreiche Chirurg verurteilt Attentate und ignoriert die katastrophale Lage seiner „Brüder“ auf der anderen Seite der Mauer. Mehr über ihre Gedankenwelt erfährt er, sobald er zu seinem Neffen Adel vordringt, von dem er glaubt, er habe Sihem zu den Dschihad-Brigaden geholt und gar ein Verhältnis mit ihr gehabt. Dass Jaafari tatsächlich von Tel Aviv ins palästinensische Dschenin, wo Adel lebt, fahren kann, zählt zu den Unwahrscheinlichkeiten, die der Thriller-Autor Khadra sich leisten kann, zumal er ansonsten hart entlang tatsächlicher Gegebenheiten des Nahen Ostens schreibt.

Dschenin ist für den israelischen Geheimdienst die Brutstätte des Terrors. Dort angekommen, wird Jaafari zunächst in einem trostlosen Keller gefangen gehalten. Der Kommandeur einer palästinensischen Untergrundbrigade erklärt ihm, welcher Hass ihn und seine Kämpfer antreibt: „Es gibt keine größere Katastrophe als die Erfahrung, gedemütigt zu werden. Das ist ein grenzenloses Unglück, Doktor, es raubt dir den Geschmack am Leben. Und solange du deine Seele noch nicht ausgehaucht hast, hast du nur den einen Gedanken im Kopf: wie ein Ende in Würde finden?“

Schließlich taucht Jaafaris Neffe auf, der den vermeintlich gehörnten Gatten vorerst beruhigt. Wirkliche Ruhe findet er jedoch erst beim Besuch der Stätten seiner Kindheit. Gegen Ende des Romans eröffnet der Situationsdramatiker Khadra noch einmal einen neuen Erzählkreis und gibt einen Eindruck von den familiären Bindungskräften in patriarchal strukturierten Sippen: Da ist der Stamm der Jaafaris und die Ruhe auf dem Hof des Patriarchen. Über die Enkel und Urenkel wiederum sind die Jaafaris in das Geflecht des aktuellen zivilen Lebens und des paramilitärischem Untergrunds im Westjordanland involviert. Das bittere Ende in Gestalt israelischer Bulldozer ist da fast eine logische Konsequenz.

Vor allem hier, im letzten Drittel des Romans, erfährt man mehr über die aktuelle Lage im Nahen Osten als in jedem ARD-Brennpunkt, wobei Khadra sich nicht scheut, einige gestelzte Passagen in Form essayistischer Exkurse in seine Erzählung mit einzubauen. Genau diese Passagen dürften wegfallen, sollte „Die Attentäterin“ demnächst verfilmt werden, wie der Verlag in seiner Programmschau verkündet. Fraglich, ob in einer Verfilmung Khadras Anspielungen auf reale Akteure des Nahen Ostens wieder auftauchen – wenn etwa am Ende das Fahrzeug eines Scheich Marwan nach einer Predigt von der israelischen Armee bombardiert wird. Marwan ist im Roman der geistige Führer der Palästinenser, bei dem auch Jaafaris Frau Rat suchte.

Mit der Figur spielt Khadra auf die gezielte Tötung Scheich Ahmed Jassins durch drei israelische Hellfire-Raketen im März 2004 an. Damals kamen sieben weitere Palästinenser ums Leben, fünfzehn wurden verletzt. Angeblich wurde die Exekution vom damaligen Ministerpräsidenten Scharon persönlich geleitet. Es kam zu internationalen Protesten und der Eskalation eines Konflikts, der in diesen Tagen ein weiteres Mal zu einem schrecklichen Krieg geführt hat.

Yasmina Khadra: „Die Attentäterin“. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Nagel & Kimche, München 2006, 270 S., 19,90 Euro