Das große Federlesens

Bis zu 160.000 Brandgänse mausern sich derzeit im Wattenmeer der Nordsee vor Schleswig-Holstein. Fast die gesamte Population versammelt sich dort zu einem weltweit einzigartigen Naturschauspiel. Der Hamburger Biologe Norbert Kempf fotografiert die Vögel seit 18 Jahren – aber er muss sie auch zählen

„Marodierende Kegelrobben“ machen sich gelegentlich einen Spaß mit den Brandgänsen. Sie schleudern mit dem Kopf die armen Viecher in die Luft und gucken hinterher.

Von SVEN-MICHAEL VEIT

So nah wie Norbert Kempf kommt ihnen niemand. Nicht, dass sie ihn kennen würden, die Brandgänse im Wattenmeer, oder ihm gar vertrauen. Aber bis auf 160 Meter lassen sie ihn schon heran, den Hamburger Biologen. Warum, weiß er selbst nicht so recht. „Irgendwie nehmen sie das kleine Flugzeug nicht als Bedrohung wahr“, sagt er, aus dem er die Vögel fotografiert. Als Zivi kam der Schwabe einst ins Watt, und die Geschichte einer Beziehung begann. „Seit 1988 fliege ich für die Brandgänse“, grinst der 49-Jährige, im Auftrag des Nationalparkamtes Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer.

Bis zu neun Flüge macht er im Sommer, in 500 Fuß immer an den Kanten der Priele und Sandbänke entlang draußen vor der Küste Dithmarschens, und macht Bilder von den mausernden Brandgänsen. Das ist noch Spaß, die eigentliche Arbeit kommt später, zu Hause im Hamburger Schanzenviertel. Dann muss er die Population auszählen. Und das kann dauern.

Etwa 150.000 Gänse waren es am Mittwoch, am Sonntag wird er wieder unterwegs sein. Und Kempf hofft auf mehr. 160.000 Vögel könnten es werden, denn jetzt, Anfang August, strebt ein weltweit einzigartiges Federlesens auf seinen alljährlichen Höhepunkt zu. Fast der gesamte weltweite Bestand an Tadorna tadorna versammelt sich jeden Sommer zur Massenmauser im Watt zwischen Elbmündung und Halbinsel Eiderstedt.

„Nur die Jungvögel fehlen und einzelne Altvögel, die sie betreuen“, sagt Hendrik Brunckhorst. „Schleswig-Holstein hat deshalb“, findet der Biologe im Nationalparkamt in Tönning, „eine besondere Verantwortung für den Bestand dieser Art.“ Nur etwa 1.200 Brutpaare sind ständige Bewohner der Marschen auf den Inseln und Halligen und auf dem Festland, all die anderen kommen nur zum Mausern.

Bis zum Ende der 90er Jahre verteilten sie sich auch noch weiter nach Süden, bei Scharhörn und bis hin zum Großen Knechtsand kurz vor der Wesermündung. Dort aber sind inzwischen kaum noch Brandgänse zu finden, warum, weiß Brunckhorst auch nicht. „Natur verändert sich eben“, zuckt der Biologe die Schultern. „Seit vier, fünf Jahren sind sie fast alle bei uns“, sagt er, „vielleicht ist es hier ruhiger und es gibt mehr Nahrung.“

Hier vor Dithmarschen, rund um die unbewohnte „Vogelinsel“ Trischen, auf der den ganzen Sommer über heftiger Brutbetrieb läuft. Kiebitze, Knutts und Küstenseeschwalben, Austernfischer, Große Brachvögel und Trottellummen – bis zu 153 Vogelarten ziehen dort ihren Nachwuchs groß; und kaum ist der flügge, legen Zugvögel wie die Sichelstrandläufer auf ihrem Rückweg aus der Arktis hier eine Rast ein und dann kommen auch noch die Brandgänse dazu.

Rings um die Nordsee haben sie seit dem Frühjahr gebrütet, in Norwegen, Schweden und Dänemark, auf den Inseln Großbritanniens, in Holland, Belgien und Deutschland. Auch die von der Ostsee, aus dem Baltikum, wechseln dann das Meer, um möglichst gefahrlos ihr Gefieder zu erneuern. Und das geht nur draußen im Watt, fünf bis 20 Kilometer vor den Deichen, wo es keine Füchse und Marder gibt und auch der Seeadler ihnen nicht hinausfolgt.

Denn drei bis vier Wochen lang, wenn ihnen die Schwungfedern ausfallen und die neuen nachwachsen, sind die Brandgänse flugunfähig. Die alten Federn sind nach einem Jahr abgenutzt und mürbe und haben ihre Wasser abweisenden und wärmeisolierenden Eigenschaften verloren. Im Gegensatz zu den meisten anderen Vögeln werfen die Brandgänse sämtlichen Schwungfedern gleichzeitig ab. Als einzige Fluchtmöglichkeit bei Bedrohung bleibt ihnen das Wasser, denn schwimmen und tauchen können sie weiterhin.

Völlig gefahrlos ist es dennoch nicht. Die großen Mantelmöwen kommen schon mal heraus auf die Sandbänke und geschwächte Exemplare verschmähen sie keineswegs. „Die stehen oben im Wind und halten Ausschau nach toten oder schwächlichen Brandgänsen“, sagt Kempf. Und wenn kein Kadaver zu finden ist, helfen die auch schon mal nach.

Vor Jahren hat er mal beobachtet, wie eine Mantelmöwe im Flug eine Brandgans aus dem Priel zog, am Kopf. Auf der nahen Sandbank ließ sie ihr Opfer herunterfallen und dann wurde es zerrupft. „Viele erbeuten die aber nicht, nur einzelne“, glaubt Kempf: „Wenn die Gänse im Schwarm da herumschwimmen, gehen die Möwen nicht drauf.“

Wohl aber tun das bisweilen die größten aller Räuber im Wattenmeer. Einige Male hat Kempf beobachtet, wie „so ein übermütiger Seehund“ für Panik sorgte. Von unten kämen die heran getaucht „und zwicken die Gänse in die Beine“, wie er das Geschehen unter Wasser deutet. Dass sie die wehrlosen Vögel töten und fressen würden, hat er aber noch nie beobachtet. „Die wollen nur spielen“, glaubt er.

Auch „marodierende Kegelrobben“, wie Kempf sie nennt, machten sich gelegentlich einen Spaß mit ihnen. Aus dem Wasser kämen sie geschossen, „und dann schleudern sie mit dem Kopf die armen Viecher in die Luft und gucken hinterher“. Die könnten so einen Schwarm „ganz schön herumscheuchen, wenn ihnen danach ist“.

Wenn die großen Meeressäuger auch keine wirkliche Bedrohung darstellen, so bedeutet ihr Spieltrieb dennoch jede Menge Stress für die Brandgänse. Denn die Zeit des Gefiederwechsels ist auch Fastenzeit. Sie nehmen kaum Nahrung zu sich und verlieren daher im Schnitt ein Drittel ihres Körpergewichts. Nur bei Niedrigwasser in der Nacht suchen sie Schlickboden und Wassersäume nach Essbarem ab. Doch auch Würmer, Schnecken, Muscheln und kleine Krebse sind dort seltener als in unmittelbarer Küstennähe, und bei der großen Anzahl an ebenfalls hungrigen Artgenossen ist der Tisch alles andere als reich gedeckt.

Ab Anfang September verlassen die ersten Brandgänse dann mit neuen Federn ihren Mauserplatz und kehren an in ihre Heimatregionen an Nord und Ostsee zurück. Für Vogelzähler Norbert Kempf beginnt dann die Strafarbeit. In langen Reihen hat er vom Flugzeug aus die Populationen auf den Sandbänken fotografiert, und zu Hause hängt er dann die Bilder in der richtigen Reihenfolge dicht an dicht an die Wand.

Und dann zählt er die Brandgänse aus. „An die 10.000 pro Stunde sind zu schaffen“, grinst Kempf. Aber bei aller Liebe zu dem Federvieh, so am dritten Tag könne das „dann schon mal richtig lästig werden“.