Diese unerhört moderne Frau Dürer

Bei einer Ausstellung in Japan begreift man Paula Modersohn-Becker einmal nicht als tragisch umhauchtes Anhängsel der Worpsweder Künstlerkolonie. Sondern zeigt sich entzückt und entsetzt zugleich von den unstilisierten Aktbildern. Nun ist die Retrospektive zurück in Bremen

Zu Lebzeiten hat es Paula Modersohn-Becker nur bis nach Paris geschafft. Pünktlich zum 130. Geburtstag haben ihr der Bremer Kunstverein und die Böttcherstraße, wo ihr Museum steht, eine Reise nach Japan spendiert – zur ihrer ersten wirklich großen Auslandsausstellung. Der Blick von außen tut Paula offensichtlich gut. Endlich wird sie mal nicht als eigenartiges Worpswede-Anhängsel wahrgenommen, als tragisch ums Leben gekommene Gattin des Malerkolonisten Otto Modersohn. Sondern als Erstaunen hervorrufende Pionierin des Expressionismus.

Bei einem längerem Leben wäre sie bestimmt deren „leading light“ geworden, schreibt die in Tokio erscheinende „Daily Yomiuri“ anlässlich Paulas mehrmonatigen Gastspiels im Fernen Osten. Und stellt sie, bezogen auf ihre intensiven Selbstporträts, sogar in eine Reihe mit Albrecht Dürer. Jetzt ist die Retrospektive mit Gemälden und Zeichnungen aus allen Schaffensperioden der Bremerin wieder in ihrem Böttcherstraßen-Domizil angekommen, das bei seiner Gründung 1927 das weltweit erste Künstlerinnenmuseum war.

Hier kann man nun in selten zu sehender Übersichtlichkeit studieren, was die JapanerInnen so erstaunlich fanden an der ihnen bis dato kaum bekannten Künstlerin. Man sieht die vielen Porträts aus dem Worpsweder Armenhaus, großflächige Gesichter, sanft vibrierende Landschaften, über die ein orange-kugeliger Mond kullert und die bekannten Birkenausschnitts-Hochformate.

20.000 Kilometer weiter östlich löste dies Oeuvre Kopfschütteln aus. Nicht so sehr, weil die Birken dort anders aussehen – die „Betula maximowicziana“ wird locker 30 Meter hoch und bis zu 220 Jahre älter als ihre norddeutschen Verwandten – sondern wegen der vielen nackten Körper. Natürlich gibt es in Japan die Tradition der erotischen Farbholzschnitte. Aber künstlerische Akte, radikal unstilisiert, gezeichnet von einer Frau um die Jahrhundertwende? Das Publikum sei „schockiert und begeistert“ gewesen, sagt Tsutomo Miuzusawa, Kurator des Hayama Museum of Modern Art, wo die Retrospektive ihre zweite von drei Stationen hatte.

Also: Bach, Mozart, Modersohn-Becker als neuer Dreiklang im schon lange Europa-begeisterten Japan? Das wäre denn doch ein bisschen übertrieben. Auch der lange dem Jugendstil zugewandte Heinrich Vogeler war kürzlich in Kyoto ausgestellt, die prestigeträchtige Moderne à la Picasso/Schiele/Kokoschka sowieso. Aber während es Ende der achtziger Jahre in Japan noch üblich war, West-Ausstellungen komplett einzukaufen, erarbeiteten sich die dortigen Ausstellungsmacher „ihre“ Paula jetzt durchaus auch selbst, dokumentiert in einem 237-seitigen Katalog. „Es gibt eine bemerkenswerte Textsicherheit“, kommentiert Rainer Stamm, Direktor des hiesigen Modersohn-Becker-Hauses, den Lektürehunger seiner Kollegen in Bezug auf Paulas Briefe und sonstigen Zeugnisse.

Tsutomo Miuzusawa fand dann auch das passende Zitat zum fernöstlichen Kunst-Debut. Mit 24 Jahren schrieb Paula in ihr Tagebuch: „Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Mein Leben ist ein kurzes, intensives Fest.“ Sieben Jahre später, wenige Tage nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde, starb sie tatsächlich an den Folgen einer Embolie.

Diese tragische Biographie ist nun wiederum Teil des heimatlich-hansestädtischen Geschichtsrepertoires. Um ebenfalls etwas Bleibendes von Paula zu haben, haben die Japaner flugs eine kunsthistorische Genealogie etabliert: Modersohn-Beckers Vorliebe für matt glänzende Farben und sanfte Übergänge sei wahrscheinlich von den Ukiyo-e, den „Bildern der fließenden Welt“ beeinflusst: Japanische Farbholzschnitte, die um die Jahrhundertende in der Tat europaweit rezipiert wurden.

Henning Bleyl

„Ein kurzes, intensives Fest“: Bis 18. September im Bremer Modersohn-Becker-Haus, Böttcherstraße 6 - 10