Wenn die Nuancen schießen

Fotos von Wolfgang Tillmans und Martine Stig, Skulpturen von Louise Bourgeois, Christos & Jeanne-Claudes „Sourrounded Islands“, Klassiker des japanischen Kirschbaumblütenbildes und vieles mehr: „Pink“, ein ganzer Band über die Farbe Rosa und ihre tausend tiefen und weniger tiefen Töne

Am Ende der Lektüre schimmert sogar der Acker rosa, wenn die Abendsonne über der Krume liegt

VON CHRISTOPH BRAUN

Hochsommer in Evessen, Niedersachsen. In der Obstplantage am Südhang des Höhenzuges Elm sorgt der Kontrast aus knalligem Rot und verwaschenem Ocker für die Farbgebung des Tages. Die Kirschen stechen ins Schwarze, die Erdbeeren pressen halb angeschimmelt ihre letzten blutroten Säfte unter dem Druck der Glutsonne aus. Abgemäht dehnen sich die Äcker in die Weite der Himmelsrichtungen, nach Osten, in Richtung Sachsen-Anhalt, ist der Blick unbegrenzt. Solche Horizonte entstehen eigentlich nur am Meer. Am Abend bieten sie Raum für die grandiosen Sommerlichtspiele von Evessen. Darin dominiert im Gegensatz zum Tag eine Farbe, deren Name allerdings unzählige Nuancen birgt: Rosa. Sie zeigen sich hier fast alle.

In Japan bildet die Farbe der Kirschblüte einen Pfeiler von Nation und Tradition. Die Zeit der Blüte dient dort als temporäres Monument autoritätsgläubiger Normmännlichkeit, denn es ist die Jahreszeit, in der man der Samurai und ihres Ehrenkodex gedenkt. Im Westen dagegen rollt man neugeborenen Mädchen schnell ein rosa Bändchen ums Ärmchen. Mit derartigen trans-, aber auch mit intrakulturellen Konnotationsunterschieden setzt sich „Pink“ auseinander. Die Idee des Buches ist wunderbar einfach: ein ganzer Band über die Farbe Rosa, ein Universum der Nuancen. Die vier englischsprachigen Essays variieren im Ton zwischen Frauenmagazin und Wissenschaft. Zur Titelerklärung nochmal kurz eingebläut: die schlichte Übersetzung des englischen „Pink“ lautet „Rosa“, während sich im deutschen Sprachgebrauch „Pink“ für den Farbton „Shocking Pink“ eingebürgert hat. Auch wer kein Englisch spricht, gerät hier in einen Flow von Eindrücken. Denn das Buch „Pink – The Exposed Color in Contemporary Art and Culture“ (dt. „Rosa – Die entblößte Farbe in zeitgenössischer Kunst und Kultur“) zeigt die Galerie einer Farbe in der Pracht eines Coffee Table Book: Das Cover ist im pudrigen Rosaton mit Pfirsichhaut-Haptik gehalten. Innen drin geht das Layout großzügig mit weißen Flächen um. Herausgegeben von der in Weimar und Berlin lebenden Künstlerin und Kunstprofessorin Barbara Nemitz, versammelt „Pink“ Fotos von Wolfgang Tillmans und Martine Stig, dokumentiert Performances von James Lee Byars und zeigt Skulpturen Louise Bourgeois’. Dazu Christos & Jeanne-Claudes „Sourrounded Islands“, Zeichnungen von Vanessa Beecroft und einige Klassiker des japanischen Kirschbaumblütenbildes.

Wie die meisten Pastellfarben lassen die tausend Töne Rosa auf Anhieb Gerüche in die Nase schießen, die etwas mit Puder, Lippenstift oder auch viel zu süßem Parfüm zu tun haben. Die Farbe reizt also im wahrsten Sinne des Wortes, und diese Aktivierung der Wahrnehmung macht aus dem Buch „Pink“ eine Erfahrung. Mehr noch: Es hat etwas von einem Ritual, darin zu blättern. Eine Korrespondenz zwischen Bild und Text ergibt sich dabei alleine schon durch die obsessive Erwähnung und Darstellung der Farbe. Pink, Hellrosa, Altrosa, Hautfarben, beinahe Weiß, beinahe Apricot.

Allmählich wird der Name der Pastellfarbe zum Mantra des Sehens und Weitersehens. Nach dieser Show ist der Blick ins Draußen sensibilisiert. Dann schimmert sogar der Acker rosa, wenn die Abendsonne über der Krume liegt. Zumindest hier ist das so, hier in Evessen am Elm.

Barbara Nemitz (Hg.): „Pink. The Exposed Color in Contemporary Art And Culture“. Hatje Cantz 2006, 35 €