SPD hat eine urige Idee

WOWEREIT-DEBATTE Wichtige Sozialdemokraten sprechen sich dafür aus, den Spitzenkandidaten für die Abgeordnetenhauswahl 2016 per Urwahl zu küren

■ Urwahl, Mitgliedervotum, Mitgliederentscheid – alle diese Begriffe stehen für Verfahren, bei denen nicht Parteitage, sondern alle Parteimitglieder über eine Personalie oder eine Sachfrage entscheiden. Bei der Berliner SPD wären das beispielsweise gut 16.000 Männer und Frauen anstelle von rund 220 Delegierten.

■ Bundesweit nutzte die SPD diesen Weg im Herbst, um über die Koalition mit der CDU zu entscheiden, die zum Zeitpunkt der Sondierungsgespräche noch auf massive Kritik in der Partei gestoßen war. An diesem Mitgliedervotum beteiligten sich fast 78 Prozent der Parteimitglieder, über drei Viertel davon stimmten für den Koalitionsvertrag.

■ Die Grünen ließen ihre Basis 2012 aus vier Bewerbungen das Spitzenduo für die Bundestagswahl aussuchen. Daran beteiligten sich rund 62 Prozent der Mitglieder. Die Abstimmung erfolgte jeweils per Brief. (sta)

VON STEFAN ALBERTI
UND UWE RADA

Wer soll der Spitzenkandidat der SPD für die nächste Wahl zum Abgeordnetenhaus 2016 werden? Bislang war bei den Sozialdemokraten die Rede davon, dass Landeschef Jan Stöß und der Fraktionsvorsitzende Raed Saleh gern Klaus Wowereit im Amt des Regierenden Bürgermeisters ablösen würden. Nun aber kommt ein neuer Vorschlag ins Spiel, der auch andere Kandidaten oder Kandidatinnen nicht ausschließt. „Angesichts der unübersichtlichen Situation läuft es auf eine Urwahl hinaus“, sagte der Vorsitzende des großen Kreisverbands Steglitz-Zehlendorf, Michael Arndt, der taz. „Das wäre besser als eine Schlammschlacht bei einem Parteitag.“

Hintergrund dieser nicht allein von Arndt zu hörenden Variante ist die Steueraffäre um Wowereits zurückgetretenen Kulturstaatssekretär André Schmitz. Zwar hat Wowereit, der eine erneute Kandidatur bislang nicht ausgeschlossen hat, am Montag die Angriffe der Opposition aus Grünen, Linken und Piraten abwehren können. In der SPD aber geht man inzwischen davon aus, dass Wowereit 2016 nicht noch einmal antritt. Damit ist auch die Nachfolgedebatte stärker als bisher in den Vordergrund gerückt. Darüber hinaus, heißt es in der SPD, würden die guten Erfahrungen beim Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag auf Bundesebene den Befürwortern einer Urwahl Auftrieb geben.

Auch der Neuköllner Kreischef und Bundestagsabgeordnete Fritz Felgentreu will die Idee nicht von der Hand weisen, den Spitzenmann oder die Spitzenfrau für die nächste Abgeordnetenhauswahl nicht wie sonst auf einem Parteitag, sondern per Mitgliederbefragung zu küren. Die Statuten der Partei sähen diese Möglichkeit vor, sagt Felgentreu: „Da kann man drüber nachdenken.“ Der Zeitpunkt sei aber deutlich verfrüht: Die Entscheidung stehe erst im Spätsommer oder im Frühherbst 2015 an.

Kein Kommentar, heißt es indes von Jan Stöß, einem der möglichen Bewerber um die Nachfolge Wowereits. „Diese Frage stellt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht“, sagte der SPD-Landeschef am Donnerstag. „Das entscheiden wir, wenn es so weit ist.“

Die SPD hat in der Vergangenheit bereits vereinzelt Mitglieder über ihr Spitzenpersonal entscheiden lassen, von der Bundes- bis zur Kreisebene. Bundesweit gaben die Mitglieder etwa 1993 Rudolf Scharping den Vorzug vor Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul. Auf Landesebene gab es bei den Berliner Sozialdemokraten zuletzt 1999 ein Mitgliedervotum, ob der damalige Fraktionschef Klaus Böger oder der frühere Regierungschef Walter Momper die Nummer eins bei der Abgeordnetenhauswahl werden sollte. Für Neuköllns Parteichef Felgentreu sind dies allerdings wenig ermutigende Beispiele. Beide Male gingen die Urwahlsieger anschließend bei der Parlamentswahl gegen ihre CDU-Gegner unter: Scharping verlor gegen Helmut Kohl, Momper gegen Eberhard Diepgen.

Mitglieder sind gefragt

Kein Kommentar dazu von Landeschef Jan Stöß, einem der möglichen Bewerber

Doch das ist Vergangenheit. Auf Bezirksebene hat jüngst der Kreisverband Tempelhof-Schöneberg, wo Integrationssenatorin Dilek Kolat Vorsitzende ist, ein Mitgliedervotum für den Fall beschlossen, dass es bei der nächsten Kreisvorstandswahl mehrere Bewerbungen für den Chefposten gibt. Vor dem Juni 2012, als Stöß den langjährigen Landesparteichef und Wowereit-Vertrauten Michael Müller ablöste, hatte es vergebliche Bemühungen gegeben, den Landesvorsitzende direkt wählen zu lassen.

Einhellig ist die Begeisterung für eine Urwahl oder Mitgliederbefragung bei den Genossen allerdings nicht. „Ich weiß, dass das ‚in‘ ist. Aber ich bin eigentlich dafür, dass die gewählten Gremien die Entscheidung treffen“, sagte Reinickendorfs SPD-Chef Jörg Stroedter. Denn solle man bei mehreren Kandidaten verfahren, wenn es nur eine relative, aber keine absolute Mehrheit gibt?

Stroedter erinnert daran, dass eine Urabstimmung bei der Aufstellung des Bundestagskandidaten 2013 in Pankow für Streit gesorgt hatte, weil sich ein Parteitag nicht an das Votum gebunden fühlte. Der Grund: Die siegreiche Bewerberin bei der Mitgliederbefragung hatte keine absolute Mehrheit erhalten.