Warten auf den Tiger

Mit der „Hafen-Safari“ beleben zwölf Künstler die Industriebrache im Schatten der Köhlbrandbrücke. Kurz vor dem endgültigen Abriss des Geländes werden noch einmal Erinnerungen wach

von Lucas Vogelsang

Weißer Garn umschließt verrostete Stahlstreben wie ein Kokon, in einem unscheinbaren Container hängen sauber sortierte Federn in durchsichtigen Frischhaltebeuteln. Vogellaute fluten den Raum. Dahinter Überreste einer versunkenen Stadt, griechische Säulen, von Zeit und Meer zerfressen. Eine surreal anmutende Kulisse, die den unvorbereiteten Betrachter im Hafengebiet von Hamburg Neuhof überrascht. Die Linie 152 hat hier ihre Endstation, mitten im Nirgendwo zwischen Containerschiffen und den Silos der Hamburger Ölmühle. Seit Freitag ist dieses Industrieödland Kunst-Savanne, denn die diesjährige Hafensafari führt die Besucher mitten durch diesen Teil des Hamburger Hafens.

Zwölf Künstler haben ihre Installationen in die Landschaft unter den mächtigen Stahlarmen der Köhlbrandbrücke eingearbeitet. Die Kunst schmiegt sich in das Gelände und fällt nur auf, wenn man von ihr weiß. Gleichzeitig ist die Landschaft aber auch Teil der Kunstwerke geworden. „Der Künstler ist hier besonders auf die Umgebung angewiesen. Wir müssen sie mit einbeziehen. Dabei bildet der Container das prägende Element“, erklärt Rolf Naedler den Camouflage-Effekt. Er hat sein Werk gleich in das Innere eines solchen unscheinbar weißen Containers verlegt und als Firmensitz getarnt. „Fasan & Co KG“ ist auf der Tür zu lesen. Im Jahr der Vogelgrippe hat er eine anachronistische Federausstellung zum Selbstbestimmen geschaffen. Im Hintergrund läuft ein Film, der ihn bei einer nächtlichen Fasanenjagd zeigt.

Die Installationen wirken zu keiner Zeit wie Fremdkörper, eher wie notwendige Erweiterungen des Vorhandenen. Es sind Kunstwerke auf Zeit, in drei Wochen werden sie ohne jede Spur verschwunden sein. Gleichzeitig ist die Hafensafari ein dreiwöchiger Farewell an das Gelände Wilhelmshafen, das danach vollständig abgerissen wird. Herta‘s Café, die alten U-Boot Zäune und selbst die Karaoke-Bar der asiatischen Seemänner werden durch einen neuen Containerterminal ersetzt.

Durch die Hafensafari wurde das Verfallsdatum des Ortes noch einmal nach hinten verschoben, doch der Ruin ist überall spürbar. Außer den Künstlern, die immer wieder um die Installationen streifen, ist kein Mensch zu sehen. Hinter Gardinen erahnt man das Gesicht eines alten Fischers. Auf der Elbe fischt niemand mehr. Ein riesiger Panama-Tanker wird unter der Köhlbrandbrücke hindurch gezogen. Inmitten dieser Skyline der Globalisierung haben die Künstler kleine Inseln geschaffen. Zum Nachdenken. „Die Kunst soll den Ort erfahrbar machen. Eine andere Wahrnehmung hervorrufen“, erklärt Rolf Kellner, Mitbegründer der Hafensafari.

Die Künstlerin Sylvia Heintze berichtet von einem Fährmann, der ihr vom Wasser eine ganze Weile lang zugesehen hatte, dann unplanmäßig anlegte, um diese Veränderung des gewohnten Ortes aus der Nähe zu betrachten. Fünfzig fußballgroße Tonklumpen hat Sylvia Heintze in die Elbe gelegt. Ihre Kunst soll „die Veränderung zeigen. Den Prozess der Naturgewalten.“ Der Ton soll nach und nach auf das umliegende Ufer abfärben.

Die nächste Station der Safari ist eine Reminiszenz an die ehemalige Wohnsiedlung Neuhof. Fünfzehn rote Briefkästen hat die schwedische Künstlerin Sara-Louise Bergkvist aus ihrem Heimatland importiert und scheinbar wahllos über ein Unkraut bewachsenes Baufeld verteilt. Das Arrangement trägt den Titel „21107“, die heutige Postleitzahl von Neuhof. In jedem der Postkästen liegt die Geschichte eines Bewohners. Es sind kleine, eingeschweißte Erinnerungen, die den Alltag im Fischer- und Industriedorf, die Arbeit in der Werft zum Leben erwecken.

Dann wieder Idylle. Konserviert in einem malerischen Schwarzwalddorf. Auf einem Ponton hat das Künstlerduo Jule Eikmann und Dietmar Weiss mit Faller-Häusern im Maßstab von 1:87 seine „Möglichkeit einer Insel“ befestigt. Mit Kirchturm, Hirschen auf einem Hügel und einer Dampflok. Als Modellversuch einer heilen Welt bildet die Miniatur einen effektvollen Gegenpart zum Container-Monstrum im Hintergrund. Unter der Köhlbrandbrück, an einer in Tigerenten-Optik gehaltenen Aussichtsplattform, endet die Safari. Auf einem Foto ist ein Ausschnitt der Brücke abgebildet. Darunter der Text: „Die Unterseite der Köhlbrandbrücke ist nur sehr dünn belebt. Dieses öde Niemandsland ist für Safaritouristen nicht zu betreten und nur aus der Distanz gefahrlos zu beobachten. Mit etwas Glück können seine majestätischen Bewohner von diesem Standort aus gesichtet werden.“

Der Betrachter bleibt verwirrt zurück und wartet auf den Tiger.