Der Kleine mit dem Kugelbauch

In der ersten Entscheidung der Leichtathletik-EM holt Kugelstoßer Ralf Bartels die erste Goldmedaille für das deutsche Team. Er stößt zwei Zentimeter weiter als der Weißrusse Andrej Michnewitsch, der schon einmal des Dopings überführt worden war

AUS GÖTEBORG SUSANNE ROHLFING

Hymne und Medaille wurden ihm noch verwehrt, und auch die Party fiel am Abend nach dem großen Triumph zunächst verhalten aus. Siegen ist anstrengend, und ein Sieg in letzter Sekunde schlaucht besonders. „Nach so einem Tag kann man nicht erwarten, dass übermäßige Feierwünsche entstehen“, sagt Ralf Bartels am Morgen danach. Viel geschlafen hat der Kugelstoßer aus Neubrandenburg trotzdem nicht. „Ich lag wach im Bett, und da ist mir das alles erst so langsam bewusst geworden.“

Es war ja auch so schnell gegangen. Erst im letzten Stoß, als kaum noch jemand dran glaubte, flog die Kugel des 28-Jährigen über die 21-Meter-Marke hinaus. Der WM-Dritte katapultierte sich vom vierten auf den ersten Platz. Dann musste er noch ein paar Minuten bangen. Doch weder der bis dahin führende Weißrusse Andrej Michnewitsch noch der Däne Joachim Olsen konnten die Maßarbeit des Deutschen zerstören. Bartels siegte mit 21,13 Metern, er hatte zwei und vier Zentimeter weiter gestoßen als seine Konkurrenten.

Der dänische Trainerstab war der Meinung, Olsons letzter Versuch sei weiter als 21,04 Meter gewesen und legte Protest ein. Die Siegerehrung fiel erst einmal aus. Statt aufs Treppchen ging es zurück ins Hotel. Der Protest wurde später abgewiesen, Ralf Bartels blieb Europameister.

„Wie er das gelöst hat, wird sein Geheimnis bleiben“, kommentierte Gerald Bergmann, der Trainer von Ralf Bartels. „Aber ein Wettkampf ist erst vorbei, wenn Ralf seinen sechsten Stoß gemacht hat.“ Das war schon vor einem Jahr in Helsinki so, als der 125-Kilo-Mann im letzten Versuch Bronze gewann. Und das war bei der Junioren-WM 1996 so, als Bartels sich mit dem letzten Stoß den Titel sicherte. Warum das so ist, warum der gemütlich wirkende Koloss unter Druck seine besten Leistungen bringt, können weder Trainer noch Athlet erklären. „Das ist typisch Ralf“, sagt Bergmann. So sei er, sein „Kleiner“.

Mit seinen 1,86 Metern Körperlänge gehört Bartels tatsächlich nicht zu den am längsten gewachsenen Kugelstoßern. Auch wirkt er mit seinem runden Kugelbauch nicht so athletisch wie manch anderer. „Ich wünsche mir schon, dass diese Masse ein bisschen weiter nach oben wandern würde“, sagt Bergmann. Aber Bartels esse einfach zu gern. „Und in der Stunde des Erfolgs gehen mir natürlich die Argumente aus.“ Bislang sei Bartels ungewöhnlich gut durch seine Leistungssportkarriere gekommen, keine ernsthafte Verletzung hat ihn bislang aus der Bahn geworfen. „Aber das Gewicht drückt natürlich auf die Knie- und Fußgelenke.“

Daran, dass Bartels die Kugel irgendwann noch mal auf 22 Meter fliegen lassen kann, glaubt der Trainer genauso wenig wie an die Verwandlung des rundgesichtigen Athleten in einen Mann mit Astralkörper. Bergmann setzt lieber auf Konstanz. „Es gibt Regionen auf der Welt, da sind 22-Meter-Stöße möglich, bei uns eher nicht.“ Aber wenn man zum richtigen Zeitpunkt 21 Meter werfen könne, „hat man auch eine Chance gegen Athleten, die mit unerlaubten Mitteln arbeiten“. Bergmann macht keinen Hehl aus seinen Zweifeln an der Ehrlichkeit des Weißrussen Michnewitsch. Der Weltmeister von 2003 war zwischen August 2002 und August 2003 wegen Dopings gesperrt gewesen. „Und in dieser Saison hat er vor der EM nur zwei Wettkämpfe in seiner Heimat bestritten“, sagt Bergmann. „Als Athlet kann man daran kaputtgehen, wenn einer, der viel weniger talentiert ist, einfach kommt und deine Hoffnungen zerstört.“ Deshalb freut den Trainer, dass Bartels das Problem auf sportliche Art lösen konnte.

Und einen anderen Dämon hat der Marinesoldat in Göteborg auch gleich noch bezwungen. Bei der Hallen-WM in Moskau war er in der Qualifikation gescheitert. „Das war mir schon fast peinlich“, sagt der Coach, „das kann man trainingsmethodisch niemandem erklären, ich habe mich damals bei der Mannschaftsführung entschuldigt“. Diesmal musste das Team dem Kugelstoßer dankbar sein. In der ersten Entscheidung Gold für Deutschland – besser hätte der Auftakt kaum sein können.