Alter Damen Grazie

Auch die ARD gedenkt ihres Brechts. Und setzt dabei ganz auf Freundlichkeit – zu Lasten des Politischen („Brecht – Die Kunst zu leben“, 23.30 Uhr)

VON CHRISTIAN SEMLER

Joachim Langs Dokumentation „Brecht – Die Kunst zu leben“ lebt vom Charme und von der Grazie interviewter alter Damen, die einst an Brechts Kollektivbetrieb namens Theater beteiligt gewesen waren. Brecht hätte die Frauen ausgebeutet? Allgemeines Hohngelächter. Er nahm, er gab. Vor allem gab er.

Lang will dem gängigen Bild vom harten, kämpferischen Kommunisten Brecht ein sanftes Porträt entgegensetzen. Von allen Künsten sei Brecht die Lebenskunst am Wichtigsten gewesen. Bei seiner Produktion sei es darum gegangen, das Publikum auf vergnügliche Weise zum Denken anzuregen. Wo es etwas zu lachen gab, war die Wahrheit nicht fern. Sein Ziel war, Freundlichkeit möglich zu machen. – Und es gelingt Lang nicht schlecht, diesen Grundtenor in der Doku zu entfalten.

Der Preis ist freilich eine zu starke Beschneidung des politischen Brecht und insbesondere seiner „Großen Methode“, seinem dialektischen Denken in Widersprüchen. Brechts Sympathie mit den „kleinen Leuten“ wird ebenso wenig bedacht wie sein enges Verhältnis zu revolutionären Arbeitern. Konsequenterweise fehlt deshalb auch die Beschäftigung mit Produktionen wie dem Film „Kuhle Wampe“.

Von den linken Denkern, die Brechts Arbeit beeinflusst haben, ist nie die Rede. Vor allem nicht von seinem Freund, dem Philosophen Karl Korsch und dessen früher und hellsichtiger Kritik an der stalinschen Sowjetunion.

Brechts Zweifel und Bedenken zuerst gegenüber der sowjetischen Politik, später gegenüber der SED dokumentiert Langs Film überzeugend. Allerdings findet sich in seiner Doku nicht die klitzekleinste kritische Auseinandersetzung mit Brechts Haltung gegenüber den Mächtigen. Weder in politischer noch in ästhetischer Hinsicht hören wir die Meinung von Brecht-Schülern, die Zweifel am Werk ihres ehemaligen Meisters äußern.

„Die Kunst zu leben“ ist so ein einziger Hymnus. Mit Brechts Denkungsart hat das nichts zu tun. Dafür versammelt die Doku beeindruckendes Film- und Fotomaterial zu Brechts Arbeit wie zu seinem privaten Leben. Die illustrierenden Filmausschnitte, vor allem die zur Weimarer Republik, rattern hingegen einfach durch. Trotz dieser (und vieler anderer möglicher) Einwände ist es das Verdienst von Langs Doku, die Produktivität Brechts herübergebracht, die Originalität seines Denkens, seine „Präsenz“ gezeigt zu haben. Das ist nicht Wenig für uns Nachgeborene.