Profiteure des Bürgerkriegs

„Wenn die Polizisten nicht bereit sind, das hohe Risiko zu tragen, sollen sie eben den Dienst quittieren“

AUS BAGDAD INGA ROGG

Es war kurz vor halb zehn Uhr morgens, als das Unheil in Dschihad seinen Lauf nahm. Faris Maki und seine Frau wollten gerade das Haus verlassen, als Nachbarn ihnen aufgeregt zuriefen, sie sollten sich in Acht nehmen, zwei Straßenzüge weiter seien Kämpfer der schiitischen Mahdi-Armee aufmarschiert. Ein paar Minuten später gab es kein Entkommen mehr, die Milizionäre hatten die Hauptzufahrtsstraße in den Stadtteil in Westbagdad abgeriegelt. An Checkpoints hielten die in Schwarz gekleideten Kämpfer jedes Fahrzeug an und verlangten die Ausweispapiere. Wer einen typisch sunnitischen Namen trug, musste aussteigen, mehrere Männer wurden hingerichtet. „Sie erschossen sie auf offener Straße“, sagt Maki.

Stunden davor war eine Bande schwarz gekleideter Männer in das Haus des Nachbarn von Oberst Mohammed eingebrochen. Die Bewaffneten pferchten die Familie in ein Zimmer, fesselten sie und verlangten die Herausgabe von Geld und Wertsachen. „Zuerst gaben sie sich als Kämpfer der schiitischen Mahdi-Armee aus“, sagt der Oberst. Als sie gemerkt hätten, dass sie in das Haus eines angesehenen Schiiten eingebrochen waren, hätten sie ihre Angaben geändert und behauptet, sie seien sunnitische Mudschaheddin. Der ehemalige Offizier in der irakischen Armee, selbst Sunnit, zweifelt deshalb daran, dass die Milizionäre, die an diesem Morgen in den Straßen von Dschihad wüteten, Kämpfer des radikalen Predigers Muktada al-Sadr waren. „Das waren Banditen, die unser Land in den Bürgerkrieg stürzen wollen“, sagt der Oberst.

Der Schiit Maki und andere Bewohner des Viertels wie auch Vertreter des Innenministeriums, die wegen der fragilen politischen Lage im Land nicht namentlich genannt werden wollen, blieben jedoch dabei, dass die Angreifer der Mahdi-Armee angehörten. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht von dem Überfall in Dschihad. „Es dauerte nicht lange, und bewaffnete Sunniten starteten einen Gegenangriff“, sagt Maki. Mehrere Nachbarn bestätigen diese Darstellung. „Die Wagen mit den Bewaffneten fuhren direkt an meinem Haus vorbei“, sagt Sadija Maruf. Kurz darauf hörte sie eine schwere Schießerei. „Wir haben uns in unser Haus eingesperrt und gebetet, dass das alles an uns vorübergeht.“

Die Polizei hat keiner der Nachbarn gerufen. „Vergessen Sie die Polizei“, sagt Maki. Voller Geringschätzung zieht er die Augenbrauen hoch. „Wenn man sie braucht, kommt sie doch nicht.“ Vor kurzem wurde direkt vor dem Haus von Sadija Maruf ein kleiner Junge erschossen, der auf der Straße spielte. „Ein Auto fuhr vorbei, jemand stieg aus und erschoss ihn“, sagt die Mittfünfzigerin. „Einfach so, mir nichts, dir nichts.“ Sie solle die Polizei gefälligst nicht mit solchen Kinkerlitzchen behelligen, habe ihr der Beamte am Telefon gesagt, als sie die Notrufzentrale angerufen habe. „Woher soll ich wissen, dass das nicht eine Falle ist“, habe sie der Beamte angeherrscht und den Hörer auf die Gabel geknallt. Er könne den Fall nicht bestätigten, sagt ein Sprecher des Innenministeriums auf Nachfrage. Doch seien Klagen von Bürgern über ähnliche Vorfälle bekannt. Allerdings dürfe man nicht vergessen, dass hunderte Polizisten ihr Leben gelassen hätten, weil sie in einen Hinterhalt gelockt worden seien.

Bei allem Verständnis für die Zwickmühle, in der sich die Sicherheitskräfte befinden, können Maki und seine Nachbarn das Verhalten nicht nachvollziehen. Wenn die Polizisten nicht bereit seien, das hohe Risiko zu tragen, das der Dienst in Bagdad mit sich bringe, sollten sie eben den Dienst quittieren, fordern sie. „Ihre Devise lautet: Schießt nicht auf uns und wir halten uns aus allem raus“, sagt Maki. „In dem Fall brauchen wir aber auch keine Polizei.“

An jenem Sonntag, dem 9. Juli, schritten aber nicht nur die Polizei, sondern auch die irakische und die US-Armee nicht ein. Dabei liegt der Stadtteil an einer der wichtigsten Lebensadern des Iraks, denn parallel zu dem Stadtteil verläuft die westliche Stadtautobahn, die zum Flughafen führt. Saddam Husseins Propagandaminister Mohammed Said Sahaf machte den Ort seinerzeit berühmt, als er behauptete, amerikanische Soldaten würden hier zu hunderten Selbstmord begehen. Da hatten diese den Flughafen längst eingenommen. An manchen Abschnitten durch hohe Sprengschutzmauern gesichert, wird die Straße heute ständig bewacht.

Auf der Brücke, an der die Zufahrtstraße nach Dschihad abzweigt, kontrollieren irakische Sicherheitskräfte den Verkehr. Sozusagen vor ihrer Nase marschierten an jenem Sonntag die schiitischen Milizionäre auf. „Sie ließen sie einfach gewähren“, sagt Oberst Mohammed. Die Sicherheitskräfte schritten auch nicht ein, als die sunnitischen Angreifer die Milizionäre unter Feuer nahmen. Etwa eine Stunde dauerte der Kampf nach Auskunft der Bewohner, anschließend hätten die Sunniten den Checkpoint übernommen. Im Glauben, Mahdi-Milizionäre vor sich zu haben, wiesen sich etliche Fahrer als Schiiten aus – sie zahlten für den tödlichen Irrtum mit dem Leben. Anschließend zog der sunnitische Mob durch die Straßen von Dschihad und erschoss vier schiitische Brotbäcker. Es war bereits kurz vor Mittag, als irakische und amerikanische Einheiten einrückten und die Lage unter Kontrolle brachten. Da war es bereits zu spät. Mindestens 50 Tote haben die Massaker auf beiden Seiten gefordert, die Polizei habe 55 Leichen gefunden, sagt ein Polizeisprecher.

Der Militärsprecher, Generalmajor William B. Caldwell, erklärte das zögerliche Eingreifen der US-Soldaten mit dem Hinweis, dass zu diesem Zeitpunkt keine Truppen vor Ort gewesen seien. Zudem hätten sie sofort reagiert, nachdem sie von irakischer Seite um Unterstützung gebeten worden seien, sagte er.

Für die Bewohner von Dschihad kam der Gewaltausbruch freilich keineswegs überraschend. Seit Monaten verschärften sich in dem Viertel die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten. Etwa zwei Drittel der Einwohner sind sunnitische Araber, viele von ihnen Ärzte, hohe Beamte und wohlhabende Geschäftsleute. Daneben leben schiitische Araber sowie Kurden und Turkmenen in Dschihad, wobei wie so oft in Bagdad der Kreis der sozial Benachteiligten unter den Schiiten besonders groß ist. Eskaliert ist der Konflikt nach dem Anschlag auf einen Markt in Medinat al-Sadr am 1. Juli. Mehr als 60 Passanten wurden bei der Explosion einer Autobombe in dem schiitischen Armenviertel im Nordosten von Bagdad getötet. In der gleichen Nacht stürmte eine Sondereinheit der Polizei die sunnitische Nur-Moschee in Dschihad. Fünf Tage später, am Freitag, detonierte vor der ebenfalls sunnitischen Scheinschel-Moschee eine Autobombe. Zwei Kinder wurden getötet. Dass der Anschlag nicht mehr Opfer forderte, sei nur der Tatsache zu verdanken, dass der Imam nach Abschluss der Freitagspredigt überraschend noch ein zusätzliches Gebet eingelegt habe, sagen Augenzeugen. Keine 24 Stunden später ging vor der schiitischen Sahra-Moschee ein mit Sprengstoff präparierter Minibus in die Luft, von dem von Sadr-Anhängern kontrollierten Gotteshaus blieben nur noch Ruinen übrig. Bei den Sunniten von Dschihad stand die Moschee in dem Ruf, ein Geheimgefängnis und Folterzentrum der Mahdi-Miliz zu beherbergen. Weniger als zwölf Stunden später begann das Wüten der Milizionäre.

„Die Amerikaner hätten das Blutbad verhindern können, wären sie früher gegen die Mahdi-Armee vorgegangen“, sagt Oberst Mohammed. Dabei äußert er den weit verbreiteten Verdacht, die Amerikaner würden insgeheim den Konflikt zwischen den Schiiten und Sunniten schüren. „Das liefert ihnen doch den Vorwand, um ihre Truppen nicht abzuziehen.“

Im Gegensatz zu den ebenfalls schiitischen Badr-Miliz, die sich nach den schweren Vorwürfen wegen Menschenrechtsverletzungen durch die von ihr kontrollierten Sondereinheiten zurückhält, ist die Mahdi-Armee keine streng hierarchisch organisierte Miliz. Teilweise hat sie eher den Charakter einer bewaffneten Gang, die sich nach Belieben zusammenrottet. Mit Razzien und Verhaftungen haben die Briten wie die Amerikaner in jüngster Zeit ihre Gangart gegen die Miliz jedoch verschärft. Auffällig zurückhaltend hat darauf bislang der schiitische Prediger Muktada al-Sadr reagiert. Sonst um keine Schmähung der fremden Truppen verlegen, hat er zu den Verhaftungen bislang geschwiegen.

In Dschihad haben unterdessen die US-Soldaten wieder das Kommando übernommen. Insbesondere in der Nacht dürfen irakische Polizisten und Soldaten das Viertel nur in ihrer Begleitung patrouillieren. Das Viertel kann damit als Vorbild für den neuen Sicherheitsplan dienen, der den Amerikanern erneut die Rolle des Oberpolizisten überträgt. Nach drei Jahren Aufbauarbeit bei der Polizei und Armee stehen sie erneut am Anfang. „Solange die Amerikaner präsent sind, gehen sich Schiiten und Sunniten zumindest nicht gegenseitig an die Kehle, wie groß ihr Hass auch sein mag“, sagt Maki. Der sunnitische Oberst pflichtet dem jungen Schiiten bei. „Bei den Amerikanern wissen wir zumindest, mit wem wir es zu tun haben.“