Zweite Tonspur

Wie aus dem Roman geklettert: Als sehr lebendig erwiesen sich Kerstin Grethers „Zuckerbabys“ im nbi

Es waren nur zwei Lebkuchen-Herzen, die an einem Tisch auf der Bühne hingen: „Eminem“ stand auf dem einen, „Riot don’t diet“ auf dem anderen. Dienstagbend las im gut gefüllten nbi die Popjournalistin Kerstin Grether aus der neu erschienenen Taschenbuchausgabe ihres Romans „Zuckerbabys“ – und die beiden Herzen umrissen die Themen des Abends aufs schönste: selbstgemacht und süß, der Jahrmarktsspektakelwelt entstiegen und doch Symbol ironischer Aneignung – und ebenso Großpop wie Kleindissidenz.

„Zuckerbabys“ ist ein Roman über Pop und Magersucht: Ein Mädchen möchte Sängerin werden und so cool wie all diese Rockstars, Mediengestalter und sonstigen Kreativen um sie herum. Das klappt mal besser, mal schlechter; irgendwann isst sie nur noch einen Apfel am Tag. Es ist ein ziemlich perfekter Poproman, nicht nur wegen des Milieus, sondern vor allem wegen des Sounds – wie eine zweite Tonspur laufen Songzeilen mit, werden Comics zitiert, und die Dialoge lehnen sich deutlich an die große Kunst der amerikanischen Vorabendserie an, gleichzeitig Rollenprosa und persönlich zu sein. Wobei der Witz des Buchs in seiner Ambivalenz liegt: denn natürlich wissen Erzählerin und Protagonisten ziemlich genau, was für ein übles und abgekartetes Spiel die Popkultur mit ihren Schönheitsidealen so treibt und was für Gefühle von Verlorenheit und existenziellem Ungenügen damit einhergehen. Trotzdem will man dabei sein. Ziemlich egal, zu welchem Preis.

So läuft es im Buch – und im Grunde spiegelten sich diese komplizierten Verweissysteme in der Lesung. Nicht nur wegen der Clips, die auf eine Leinwand hinter die Lesenden projiziert wurden – die Bilder aus R&B- und Hiphop-Videos von 2003, dem Entstehungsjahr des Romans, könne man sich als das Unbewusste der Hauptfigur vorstellen, sagte Kerstin Grether. Ja, auch ein Clip von den Sugababes war dabei, manchmal muss es eben plump und direkt sein.

Auch weil Grether selbst mittlerweile ein kleiner Star ist – genau wie Jens Friede und Joachim Lottmann, die ein paar Passagen lasen. Oder Bernadette La Hengst, die ebenfalls las und die ganze Veranstaltung mit einigen ihrer Songs einrahmte, die sich tatsächlich so anhörten, als könnten sie auch auf einem „Music inspired by the novel Zuckerbabys“-Album stattfinden. Wie diese kleinen Stars diese Texte lasen, in denen Menschen vom Starsein träumen, und sich dabei behandelten, als seien sie große Stars – das hatte genau diese schönen Als-ob-Momente, die Pop als große Kunst der bewussten Hochstapelei von der Hochkultur unterscheiden. Oder zumindest einmal unterschieden haben. Das Taschenbuch „Zuckerbabys“ kommt im Suhrkamp Verlag heraus.

TOBIAS RAPP