Grauschattiert, nicht nachtschwarz

PROGRAMM EU ist nicht „militaristisch“, sondern ein „gemeinsames Haus“: Mit moderaten Tönen zieht die Linkspartei in den Wahlkampf

■ 76,5 Prozent: Ohne Gegenkandidaten wurde Gabi Zimmer am Samstag in Hamburg von 365 der 477 Delegierten an die Spitze der Liste für die Europawahl gesetzt. Gegenkandidaten hatte sie nicht. Die 58-jährige Thüringerin aus dem Reformerlager der Linkspartei war zwischen 2000 und 2003 Vorsitzende der ostdeutschen Vorgängerpartei PDS, die 2007 mit der westdeutschen WASG fusionierte. Im Europaparlament ist sie heute Fraktionsvorsitzende.

■ Über 10 Prozent: Mit ihrer Forderung nach einem sozialen „Neustart“ der Europäischen Union hofft die Partei bei der Wahl am 25. Mai auf über 10 Prozent: „Ich glaube an ein zweistelliges Ergebnis“, sagte Gregor Gysi am Sonntag. 2009 erzielte die Partei 7,5 Prozent.

AUS HAMBURG STEFAN REINECKE

Als Wolfgang Gehrcke am Samstagmorgen vom Podium geht, wird er von vielen der 500 Delegierten der Linkspartei in Hamburg gefeiert wie ein Sieger. Der Parteilinke Gehrcke ist ein rhetorisch versierter Außenpolitiker. Er hatte die Formulierung, dass die EU „neoliberal, militaristisch und weitgehend undemokratisch“ sei, in dem Leitantrag zur Europawahl mit durchgesetzt. Die wurde inzwischen vom Parteivorstand kleinlaut wieder entfernt, und so recht wollte danach auch niemand mehr je dafür gewesen sein.

Gehrcke aber verkündet nun, dass „die EU militaristisch“ ist. „Daran ist nichts Falsches“, sagt er lautstark und trotzig. Es folgt donnernder Applaus.

Die Situation ist etwas kurios – und typisch für die Mentalität der GenossInnen. Die Linkspartei hat sich auf einen neuen Leitantrag geeinigt, der eine andere Tonart anschlägt als der alte. Nun lobt die Linkspartei das „gemeinsame Haus Europa“, das für Frieden stehe. Natürlich ist auch in dem neuen Text die Kritik an Neoliberalismus und Spardiktat der EU zu lesen. Doch das Bild, das die Partei nun von der EU skizziert, ist grauschattiert, nicht mehr nachtschwarz wie in Gehrckes Radierungen. Gysi & Co wollen in Europa Reichtum umverteilen, Mindeststeuersätze für Unternehmen und eine Vermögensabgabe für Reiche, zudem Mindestlöhne und Mindestrenten. Es ist ein linkssozialdemokratische Programm, mit etwas radikaler Phraseologie, aber im Kern reformistisch.

Gehrckes Antrag „neoliberal, militaristisch und weitgehend undemokratisch“ wieder einzufügen, bekommt später nur eine Handvoll Stimmen. Und doch bejubeln die GenossInnen den Westlinken. Auch Sahra Wagenknecht, die die EU als mit schwerem rhetorischen Geschütz als „Lobbyistenklub und Fassadendemokratie“ attackiert, bekommt überschwänglichen Applaus. Moderate Redner haben es eher schwer, die Delegierten zu entflammen. Es ist wohl so: Im Kopf vieler GenossInnen geht es realistisch zu, doch ihr Herz schlägt oft für die radikale Geste, das entschiedene „Wir gegen die“. Dagegen geht einfacher als dafür.

Es gibt noch immer nur einen, der den Widerspruch zwischen Verstand und Gefühl leichthändig aufzulösen vermag: Gregor Gysi, der, wie auf jedem Parteitag, gleichermaßen als Stratege, Conférencier und Integrationsfigur auftritt. „Wir müssen die EU als linke Idee gegen ihre falschen Freunde verteidigen“, sagt er. Das ist der Schlüsselsatz des pragmatischen Flügels. Demnach ist die EU eine reformierbare Institution, keine Fake-Demokratie. Und nach innen gewandt sagt Gysi, es sei „Quatsch“, Ängste vor einer Rückkehr zur PDS zu schüren – davor hatte Wagenknecht gewarnt. Die Westlinken fürchten die Ostdominanz. Bei diesem Parteitag gibt es zum ersten Mal keine Quote mehr für den Westen: Das Ost-West-Verhältnis ist fast zwei Drittel zu einem Drittel.

Der deutliche Dissens zwischen Gysi und Wagenknecht ist eher ungewöhnlich für einen Parteitag. Die GenossInnen mögen Aufrufe zur Einheit, unverbindliche Formelkompromisse, die Betonung des Verbindenden, nicht den Widerspruch.

Die GenossInnen votieren eher für handfeste Pragmatiker, die Leisen, nicht die Volltönenden. Die Ostdeutschen Gabi Zimmer und Connie Ernst werden recht einmütig auf die Plätze eins und drei gewählt, ebenso die Westlinke Sabine Lösing auf Platz 5. Das ist keine Überraschung, es war von den Flügeln so vereinbart.

Bei den Kampfkandidaturen zwischen Realos und linken Flügel zeigt sich ein vermischtes Bild. Auf Platz zwei setzt sich der von den ostdeutschen Moderaten unterstützte bayerische Gewerkschaftsmann Thomas Händel gegen den von der Antikapitalistischen Linken (AKL) unterstützten Friedensaktivisten Tobias Pflüger durch. Pflüger scheitert, zur Verbitterung der AKL, auch bei der Kandidatur auf Platz vier an dem pragmatischen Ostler Helmut Scholz. Auch Martina Michels und Martin Schirdewan auf den Plätzen 7 und 8 zählen zum Ost-Reformflügel.

Aber es gibt keinen Durchmarsch des Ostens. Auf Platz sechs setzt sich Wagenknechts wortgewandter Mitarbeiter Fabio de Masi knapp gegen den ebenso wortgewandten Ostreformer Dominic Heilig durch. Das ist ein Sieg für Wagenknecht, die am Mikro für de Masi warb. Heilig, so zerknirschte Ostler, hätte gewonnen, wenn Gysi offen für ihn geworben hätte. Aber das hat Gysi wohlweislich nicht getan. Heiligs Wahl hätte der linke Flügel als Kriegserklärung verstanden. Dann wäre nur die von der AKL gestützte Sabine Lösing als Westlinke auf den aussichtsreichen ersten acht Plätzen gelandet. Für diesen Fall stand schon die ultimative Drohung vonseiten einiger Westlinker im Raum: Spaltung. Und das will niemand.

So bleibt die Machtbalance gewahrt. Die Ostreformer geben den Ton vor, ohne die radikale Westlinke vorzuführen.

Beim Parteitag in Göttingen 2012 hatte Gregor Gysi „Hass in der Fraktion“ diagnostiziert. Göttingen, so die Selbstdeutung der Partei seitdem, war die Katharsis, das reinigende Gewitter. In Hamburg sieht man Wetterleuchten. In der Ferne.