Marken für den Fußgänger

Erst Verschönerungsmaßnahme, mittlerweile verschüttgegangen: Die Ausstellung „Zwischenablage“ dokumentiert Kunst in den Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf

Zwanzig Minuten kurvt die Straßenbahn jetzt schon zwischen den Plattenbauten Marzahn-Hellersdorf und noch ist kein einziges Wandbild zu sehen. Nur Plakate, die um Mieter werben – „Wohnen, Wohlfühlen, Wohnpark“ –, und Verschönerungsmaßnahmen an den Fassaden: Die Balkonbrüstungen werden farbig. Das ist so ungefähr die kleinste Dosis von Kunst am Bau, die man sich denken kann.

Gegen diese Architektur ist es schwer anzustinken. Das wird schnell klar auf dem Weg zu der Dokumentation „Zwischenablage – Kunst im öffentlichen Raum in den Großsiedlungen Marzahn und Hellersdorf“ im Ausstellungszentrum Pyramide. Noch immer legt man, allen Wohnumfeldverbesserungen zum Trotz, die Wege zwischen den Bauten am liebsten schnell zurück; dafür sind die breiten Straßen auch gebaut. So gehörte zu den ersten Funktionen der Kunst in den Großsiedlungen, die Konturlosigkeit des öffentlichen Raums zu mildern und dem Fußgänger Orientierung zu bieten: Noch so und so viele Minuten bis zur U-Bahn, sagten ihm dann jeden Morgen die Skulpturen eines jungen und eines alten Paares, die von der Bildhauerin Ingeborg Hunziger 1989 auf einer Wiese aufgestellt wurden.

Die Geschichte der Kunst in Großsiedlungen, die in der Pyramide in Foto- und Texttafeln aufgeblättert wird, enthält die unterschiedlichsten Erzählungen. Sie scheint zunächst eine aus der DDR: Wie die Baukombinate, die aus den unterschiedlichen Regionen zur größten Baustelle des Landes kamen, Künstler im Schlepptau hatten, die „realistisch und volksnah“ arbeiteten. Wie verwechselbare Architektur, zum Beispiel an Schulen und Kindertagesstätten, ein unverwechselbares Gesicht aufgemalt erhielt, mit vielen Tier- und Märchenmotiven. Wie Kunst am Bau nicht zuletzt dem Beruf des Künstlers eine Existenzgrundlage verschaffte. Wie die Auftraggeber der Kunst noch lange versuchten, zum Beispiel an der Marzahner Promenade, mit der Kunst noch einmal Heldengeschichte zu schreiben, vom geprügelten Widerstandskämpfer bis zum Erbauer von Marzahn – der Fertigstellung kam die Wende zuvor.

Damit beginnt die zweite Erzählung, von Verfall, Abbau und Zerstörung der Kunstwerke aus der DDR-Zeit und von neuen Kunstprogrammen der Quartiersmanager in der Zeit seit 1990. Man übersieht das so leicht: Dass die Nachwendezeit der meisten Plattenbauten, die erst in den 80er-Jahren fertig wurden, länger ist, als ihre DDR-Zeit. Die Ausstellung versucht beide Zeitschichten gleichwertig darzustellen und einer Deutung der neuen Kunst als ideologisches Westprogramm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie will aber auch das spurlose Verschwinden des Dekors der Vergangenheit aufhalten: Deshalb sind Entwürfe aus den 80er-Jahren ausgestellt und in einem Regal im Innenhof abgebaute Platten mit Mosaiken, Keramikköpfe und Reliefenten gelagert, die den Anfang eines Depots bilden. Ab jetzt soll in dieser „Zwischenablage“ aufbewahrt werden, was noch demontiert wird. Dahinter steckt die Idee, neben dem Umbruch, der sich vollzieht, auch ein Gedächtnis herzustellen.

Vieles ging schon unwiederbringlich verschütt. Brunnen, die vor Kaufhallen und Gaststätten den öffentlichen Raum aufwerten sollten, verschwanden oft als Erstes. Viele der 55 Kindertagesstätten wurden aufgelöst. Wandbilder sind verblasst oder unter Wärmeabdeckungen abgetaucht, wie ausgerechnet Hans Mendaus Wandbild „Umwelt schützen pflegen“ von 1982, das sehr an psychedelische Strudel erinnerte.

Ob dieses Schicksal auch einmal den Arbeiten von Jim Avignon, Thorsten Goldberg oder Gerhard Merz blüht, die in den letzten 15 Jahren mit großen Wandarbeiten betraut wurden, oder den Akrobaten, die Hubertus von der Goltz über ein Hochhausdach balancieren lässt, weiß man nicht. Wir sind zu nah dran, um es uns vorstellen zu können, dass ihre jetzt so stimmigen Zugriffe auf die Zeit auch einmal überholt aussehen werden.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Zwischenablage“, bis 25. 8., Mo.–Fr. 10–18 Uhr (Do. bis 20 Uhr), in der Pyramide, Riesaer Str. 94, Hellersdorf