Kein Fußbreit der Pädagogik!

THEATER Wenn ausgerechnet im protestantischen Hannover pompöser Barock inszeniert werden soll, bleibt dem Dramaturgen nur die Wutrede: „Römische Octavia“ am dortigen Schauspiel

Was macht eigentlich ein Dramaturg beruflich? Das ist die bei Publikumsgesprächen am Theater am häufigsten gestellte Frage – und die seitens Dramaturgen meistgehasste. Das muss aufhören, mag sich Dramaturg Christian Tschirner gedacht haben – und verfasste ein bitterbös-komisches Dramolett über einen Dramaturgen, der gegen alles ätzt, was ihn am Theater nervt.

Tschirner kopiert dabei recht gekonnt den Stil von Thomas Bernhard: musikalisch mit Gedanken und Formulierungen sprachspielend, voller Hassliebe für Bühnenkunst und Schauspieler. Bernhards Tiraden gegen Wien/Österreich sind nun gegen Hannover/Deutschland gewendet. Und der dortige Regisseur Nick Hartnagel betont am Monolog dessen Komödiennatur.

Gegeben werden soll, das ist der erzählerische Rahmen, „Die Römische Ocativa“, ein sieben Bände – 7.200 Seiten – umfassender Roman, geschrieben von Ulrich Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel. Kennt keiner, will auch keiner sehen in Hannover.

Einsam im Parkett

Deswegen wird nun für eine authentische Aufführungssituation gesorgt: Nur 53 der 630 Plätze im Schauspielhaus werden verkauft – man fühlt sich im Parkett so einsam wie auf der Bühne der Dramaturg (Hennig Hartmann): ein öffentlichkeitsscheuer Asthmatiker, anfangs noch mit Spickzetteln und auf der Unterlippe kauend.

„Vertraglicher Hauptgegenstand aller Theaterdramaturgentätigkeit ist ja längst die so genannte Publikumseinführung geworden“, grummelt der. „Wieder mal kann ein Stück nicht einfach so gezeigt werden“, schimpft er dann, redet sich in stotternde Empörung, bis die Stimme kippt in ein heiseres Kieksen. Der „unbefangene Blick ist tot“, statt dessen: „Interesse ja, aber abgründiges Unverständnis. Vollkommene Geschichtsvergessenheit. Totale Verengung des Erwartungshorizonts.“ Und: „Permanente Beschäftigung mit Nichtigkeiten. Hannover Messe! Hannover Zoo! Hannover 96!“

Es hätten Jahre des Konsums „des sogenannten Regietheaters“ den Zuschauer „einführungshörig gemacht“: Sage man ihm nicht, „was er gleich sieht, ist er nicht in der Lage, irgendetwas zu sehen“. Ja: „Der gesamte Theaterbetrieb wurde längst Stück für Stück in eine theaterpädagogische Anstalt verwandelt.“

Alle bekommen da ihr Fett weg. So werde auch dem Regisseur vom Dramaturgen das Denken abgenommen, der ihm auch jede weiterführende Lektüre buchstäblich vorlese. „Die Rate der Analphabeten unter den Regisseuren ist ja gerade deshalb nirgends auf der Erde so hoch wie in Deutschland. Deshalb ist ja das Tanztheater nirgends so verbreitet wie auf deutschen Sprechtheaterbühnen.“

Aber was ist überhaupt mit Hannover als Aufführungsort eines maßlosen Barock-Romans? „In einer vom Protestantismus buchstäblich entseelten Stadt. Aussichtslos!“

Schön inszenierte Leere

Endlich hebt sich der eiserne Vorhang. Musik tobt Spannung heischend aus den Lautsprechern, Scheinwerfer setzten dramatische Akzente, Nebel wallt stimmungsvoll, Podien heben und senken sich. Der Dramaturg ist verzückt. „Die Römische Ocativa“! Aller Text, alle Schauspieler sind gestrichen, und doch: „Absolute Texttreue. Schiffbruch. Rettung. Göttliches Wunder! Theodicee, verstehen Sie? In Hannover!“

Der Dramaturg sieht alles, versteht alles. Wir aber erleben nur die Abwesenheit jeden Inhalts, schön inszenierte Leere, Show der Bühnentechnik. Das könnte bedeuten: Die Erfahrungswelt heutiger Theatermacher und zuschauer hat kaum noch Schnittmengen. Die Aufführung als Verständigung muss scheitern.  JENS FISCHER

nächste Vorstellungen: 25. 2., 6. + 21. 3., jeweils 22 Uhr, Hannover, Schauspielhaus