ELEKTRONIK TRIFFT ORCHESTERKLÄNGE IN DER VOLKSBÜHNE, AUTOSUGGESTION TRIFFT DEUTSCHROCK IM LIDO
: Sigmar Gabriel holt die Vergangenheit ein

VON JENS UTHOFF

Hören“ steht in großen Lettern über der Volksbühne geschrieben, und noch ein Stück darüber ragt das altbekannte „Ost“ in den Abendhimmel. Es hat immer fast was Feierliches, wenn man, vom Alex kommend, auf den Rosa-Luxemburg-Platz zugeht. Ich bereue es ein bisschen, nicht etwas festlicher gekleidet zu sein und wie ein Schluffi rumzulaufen.

An dem Rad wartet Freundin A., rein geht’s, in die Sitze gefläzt. Sich ganz dem „Hören“ widmen. So lautet diesmal nicht nur das ganz persönliche Wochenendprogramm, sondern eben auch der Titel eines dreitägigen Festivals in der Volksbühne. Neuinterpretationen von Terry Rileys Minimal-Klassiker „In C“ aus den Sechzigern stehen unter anderem auf dem Programm. Der kanadische Musiker Ben Shemie mit Streichquartett und die Hamburger Band 1000 Robota – flankiert von großem Orchester und Chor – eröffnen diesen zweiten Festivalabend am Samstag. Shemie und sein Streichquartett reproduzieren die Feedbackorgie eines Gitarristen, die auf der Leinwand gezeigt wird. Idee gut, Aufführung na ja. Danach 1000 Robota, denen der Mut oder das Geschick fehlt, die Melange aus Rock, HipHop und Hamburger Schule adäquat orchestral zu inszenieren, dann hätte es gut werden können – wurde es aber nicht. Und ein Konzert mit einer Schelte für die eigenen Roadies („Gitarre total verstimmt“) zu beginnen wirkt auch nicht sehr souverän.

Beeindruckend wird’s erst am späten Abend mit Pantha du Prince & The Bell Laboratory. Dann aber auch richtig. Der Berliner Hendrik Weber alias Pantha du Prince hat mit seinem Laboratorium allerlei Klingendes auf der Bühne postiert: Carillons, Xylofone, Klangvasen – ein beeindruckendes Instrumentarium an Glockenspielen. Wie ein MC steht Weber hinter all den klingenden Metallen, unterlegt das beglückende Glockenspielgewirbel mit mal zaghaften, mal basslastigeren Beats. Es dauert nicht lange, da tanzen die ersten vor ihren Klappsitzen. Gegen Ende wandern die sechs Musiker mit Glocken und Klangstäben durchs Publikum und lassen die Zeremonie langsam ausklingen.

Am Sonntagabend geht’s Richtung Lido. Dort spielt die Berliner Supercombo Die Höchste Eisenbahn. Als ich ankomme, steht aber zunächst mal die Songwriterin Desiree Klaeukens auf der Bühne, von der ich noch zwei Songs höre. Eine passable Portion Suzanne-Veganismus. Und rein von der Dramaturgie her ist es ja eh gut, wenn so ein Wochenende besser und besser wird, daher kommt das Beste zum Schluss: Die Höchste Eisenbahn, dieses Mellow-Rock-’n’-Roll-Quartett mit den Songwritern Francesco Wilking und Moritz Krämer, legen einen Superauftritt hin. Sie reihen im ausverkauften Saal Hit an Hit, singen „Jan ist unzufrieden“ oder „Uns alle holt die Vergangenheit ein“ – Sigmar Gabriel übrigens auch, wie Wilking prophezeit.

Die Band freut sich sichtlich, nach zweiwöchiger Tour, die wohl nicht allerorts ein solcher Triumphzug wie im Lido wurde, in Berlin zu sein: „Wir haben unterwegs auf Tour viel mit Autosuggestion gearbeitet. Wir wussten ja immer, am Ende kommt Berlin.“ Die vier Musiker geben übrigens ein schönes Bild auf der Bühne ab: „Perfekt schluffimäßig“ will Wilking rüberkommen – das gelingt ihm: Mit seinem ollen roten Baseballkäppi, unter dem das lange Haar hervorlugt, könnte er gut eine Gewerkschafter-Demo anführen. Dazwischen der Schlaks Krämer, der wesentlich breitere Felix Weight, und hinter allen, ganz unauffällig mit Hobo-Strickmütze, Max Schröder am Schlagzeug. Dieses heterogene Quartett rehabilitiert Rockmusik mit deutschen Texten. Sie machen munter weiter, als sie etwa mit Unterstützung zweier Töchter der Bandmitglieder, wie man mutmaßen darf, das wunderbare „Was machst du dann?“ anstimmen: „Wenn du nicht mehr weißt, wie du heißt / Der Gerichtsvollzieher um die Wohnung kreist / Was machst du dann?“ Eine schicke Melange aus Grundangepisstheit und lustigen Miniaturen. Viele Lieder über Liebe, gut gemacht. Und – man nähert sich langsam dem Ende des Abends – es geht tatsächlich, Zeilen wie „Wenn wir uns so lange nicht sehen / Bleiben die Uhren am Hauptbahnhof stehen“ im Chor zu singen, ohne peinlich zu werden. Und wie das geht!

Fast frühlingshaft mutet das Bild an, das sich auf dem Rückweg nach Neukölln auf der Thielenbrücke bietet. Ein Pärchen macht es sich dort bereits auf einem Sofa bequem. Die beiden betrinken sich in einer milden Februarnacht. Mit Sekt, soweit ich sehen kann. Kurz darauf gehe ich schlafen.