Die deutsche Mangelwirtschaft

WIRTSCHAFT Akademiker, Ingenieure, Pflegepersonal: Was ist das richtige Rezept gegen den Fachkräftemangel?

„Prinzipiell zuwanderungsoffen, flexibel, passgenau und wirtschaftsfreundlich“

INNENMINISTER THOMAS DE MAIZIÈRE

AUS BERLIN EVA VÖLPEL

Die deutsche Wirtschaft ist aufgeschreckt. Mehr als zwei Drittel der Unternehmen hätten Probleme, passende Fachkräfte für offene Stellen zu finden, erklärte Hans Heinrich Driftmann, Präsident des Deutschen Industrie-und Handelskammertages (DIHK), am Dienstag in Berlin. „Und die Unternehmen befürchten in den kommenden fünf Jahren eine deutliche Verschärfung der Fachkräftesituation.“ Das seien die Ergebnisse einer neuen DIHK-Umfrage bei rund 1.600 Unternehmen aus dem gesamten Bundesgebiet. Die Zahlen unterstreichen: Aufgrund des demografischen Wandels wird es in Deutschland in absehbarer Zeit deutlich weniger Arbeitskräfte geben. Jetzt, im Konjunkturaufschwung, tritt dieses strukturelle Problem deutlich hervor.

Es ist „eine Revolution auf leisen Sohlen“, sagte Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf einer Pressekonferenz mit Driftmann und Bundesinnenminister Thomas de Maizière. Laut dem Statistischen Bundesamt wird in den nächsten 20 Jahren die Anzahl der potenziell Erwerbstätigen zwischen 20 und 64 Jahren um sechs Millionen Menschen sinken. Bereits heute fehlten laut Verein Deutscher Ingenieure 35.400 Ingenieure. Die Pflegebranche erwartet in den nächsten zehn Jahren einen ungedeckten Bedarf von 300.000 Arbeitskräften. Und rund 60.000 zusätzliche Erzieherinnen seien nötig, um den Kitaausbau zu ermöglichen, haben Experten berechnet.

„Arbeitskräfteengpässe zeigen sich nicht nur im Bereich der Akademiker“, stellte Driftmann klar. Gesucht würden ebenso Fachwirte oder Meister, Personal fehle auch im Handel oder in der Gastronomie. Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP), aber auch renommierte Migrationsexperten wie Klaus Bade fordern deswegen erleichterte Zuwanderungsregeln.

Doch Bundesinnenminister de Maizière sieht dazu keinen Anlass. Einig war er sich mit Driftmann und von der Leyen, dass das Hauptaugenmerk auf der „Erschließung des inländischen Potenzials“ (Driftmann) liegen müsse: durch verstärkte Aus- und Weiterbildungsoffensiven in Schulen und Betrieben und eine Ausweitung der Beschäftigung Älterer. Die Arbeitsministerin will in Zukunft zudem regelmäßig einen Report Arbeitskräftemonitoring vorlegen, „um das Phänomen Fachkräftemangel auf die Regionen und Branchen runterzubrechen“.

De Maizière ist der Meinung, das existierende Zuwanderrungsrecht sei „prinzipiell zuwanderungsoffen, flexibel, passgenau und wirtschaftsfreundlich“. Ein Punktesystem wie in Kanada sei viel zu bürokratisch.

Für einen Trugschluss hält das Migrationsexperte Bade: „Bürokratisch ist die derzeitige Unübersichtlichkeit im deutschen System, in der es von Einzelbestimmungen und Sonderregelungen nur so wimmelt.“ Diese verstehe man nur noch mithilfe von Ausländerrechtsexperten.

Um Zuwanderung gezielt zu steuern, plädieren Bade und der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration für ein dreigliedriges Punktesystem. Zuerst würden zuwanderungswillige Arbeitnehmer je nach Alter, Beruf und Sprachkenntnis Punkte erhalten. Dann bekämen diejenigen Sonderpunkte, deren berufliche Fähigkeiten im Inland besonders gebraucht würden. Und drittens sollen Firmen bei akutem Bedarf Arbeitskräfte sofort anfordern können. Zudem müsse aktiv „auch in Konsulaten“ um Zuwanderer geworben werden, fordert Bade. Diese Maßnahmen hält er für unerlässlich, damit die Gesellschaft „unter dem starken demografischen Druck und der internationalen Konkurrenz um Arbeitskräfte auch in einigen Jahren noch funktioniert“.