Produktive Dauerkrise

Ein Textgebirge in der ersten Person: Der zweite Band der Tagebücher Einar Schleefs führt tief hinein in den Erinnerungsfuror und die abenteuerliche Seele des Regisseurs, dem die DDR zu eng war und der das westdeutsche Theater revolutionierte

Als er 18 Jahre alt war, notierte Schleef: „Zu feige, zu kraftlos, zu unwillig, zu gehorsam sind wir, nicht wagend den Kampf“

VON ALEXANDER CAMMANN

Auch sein Tod war noch einmal ein einsames Aufbegehren. Er hatte sich selbst ins Berliner Krankenhaus eingeliefert, keiner wusste davon. Als dort Einar Schleef am Tag darauf, am 21. Juli 2001, starb, konnten die Ärzte zunächst keine Angehörigen ermitteln. Erst zwei Wochen später erreichte die Todesnachricht die Öffentlichkeit.

Einsam und öffentlich – dies war eine der unzähligen Spannungsverhältnisse, die Funken und Flammen im Leben des Autors, Regisseurs und Bühnenbildners Einar Schleef schlugen. „Autor, Regisseur und Bühnenbildner“ ist dabei eine eher hilflose begriffliche Zurichtung dieses Gesamtkunstwerkers, der alle hergebrachten Kategorien sprengte. Er „brach über das westdeutsche Theater herein wie eine Naturkatastrophe“, so sein Biograf Wolfgang Behrens.

Dabei arbeitete der 1944 in Sangerhausen geborene Schleef nach seinem Weggang aus der DDR 1976 zunächst gar nicht am Theater. Im Westen, fern der Heimat, kämpfte er am Schreibtisch mit ihr: Er schrieb sein gigantisches Erinnerungswerk „Gertrud“, dessen zwei Bände 1980 und 1984 erschienen. Ab Mitte der achtziger Jahre folgten seine Inszenierungen am Frankfurter Schauspiel, die ihn zum umstrittensten Regisseur des deutschen Gegenwartstheaters machten. Seine marschierenden Massenchöre wurden zum Klischee, auf das ihn entsetzte Kritiker reduzierten. Wohltemperiertere Zeitgenossen brachte der Vulkan Schleef mit seiner „Faschismus-Scheiße“ (Peter Zadek) auch später aus ihrem Rezeptionsrhythmus, so mit seinen Berliner Versionen von Hochhuths „Wessis in Weimar“ 1993 und Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ 1996, so bei seinem Triumph mit Elfriede Jelineks „Sportstück“ am Wiener Burgtheater 1998.

In seinen letzten Jahren tauchte Schleef neben der Regiearbeit wieder tief in sein lebenslanges Refugium ein: das Tagebuch. Dies ist bei Schleef wiederum ein irreführender Begriff. Seine Notate bestehen aus Tageseintragungen, angereichert mit Erinnerungsfetzen, ausführlichen Kommentaren zu früheren Eintragungen, verschiedenen Fassungen, Zeichnungen, dazu Szenen, die in bereits veröffentlichten Texten von ihm vorkommen. In dieser Konstruktion fließen Leben und Schaffen zusammen, auf Papier und in zahlreichen Computerdateien. Stoff und Seele werden via Collage zur Einheit, die Schleef in seinem Hausverlag publizieren wollte, „ein Text-Gebirge in der ersten Person“, wie sein Lektor Hans-Ulrich Müller-Schwefe das Werk beschrieb. Doch Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld lehnte im Juni 2001 dieses megalomane Lebensmaterial-Projekt seines Autors ab.

Erst nach Schleefs und Unselds Tod kam eine auf fünf Bände angelegte Edition der Tagebücher in Gang: 2004 erschien der erste Band, der die Zeitspanne von 1953 bis 1963 umfasst. In diesem Jahr folgten die Aufzeichnungen seiner Ostberliner Zeit zwischen 1964 und 1976; 2007 geht es weiter. Schon jetzt lässt sich sagen, dass Schleefs Tagebuch zu den herausragenden Zeugnissen seiner Gattung gehört: ein Künstlerleben im 20. Jahrhundert, im Angesicht der deutschen Teilung.

In der Kleinstadt Sangerhausen unweit des Kyffhäusers wuchs Schleef inmitten uralter Kulturlandschaft auf. Dieser deutschen Provinz entfloh er früh, doch ließ sie ihn nie los. Die im Werk omnipräsente Mutter des zeitlebens stotternden Schleef, der prügelnde Vater, dem in der DDR keine Karriere als Architekt möglich war, die ersten Schritte des hochbegabten jungen Schleef im Malzirkel, beim Tanzen, mit Freunden – eine exzentrische DDR-Jugend in den fünfziger Jahren konnte man im ersten Tagebuchband entdecken. Schon hier gab es Szenen, die Schleef später immer wieder neu beschrieb und kommentierte: beispielsweise die offenbar halbherzig geplante Flucht der Familie in den Westen 1961, die der Mauerbau ohnehin verhinderte, der sich Sohn Einar zudem jedoch widersetzt hatte. „Nun sitzen wir in der Tinte“, kommentierte er ein Jahr später, „auch meine Schuld.“ Der 18-Jährige sieht die Lage schonungslos: „Zu feige, zu kraftlos, zu unwillig, zu gehorsam sind wir, nicht wagend den Kampf, so müssen wir uns ducken, lügen, heucheln. In unserer Seele bleibt von jeder Lüge etwas zurück, und wir merken es.“

Der zweite Tagebuchband nun dokumentiert Schleefs Ostberliner Jahre. 1964 zum Malereistudium zugelassen an der Kunsthochschule Weißensee, wird er nach einem halben Jahr exmatrikuliert: Im Besucherbuch einer Ausstellung eines seiner Professoren hatte er sich abfällig geäußert. Es folgen die Bewährung in der Produktion (unter anderem als Comic-Zeichner für Hannes Hegens Digedags), intensiver Kontakt zur Theaterwelt sowie manischer Kulturkonsum, typisch für junge DDR-Intellektuelle, die sich Welt in ihr umzäuntes Territorium holen wollen. Gerne verteilt er Zensuren: „Grass KATZ UND MAUS gelesen Note 2.“ Der Osten kommt schlecht weg: „DEFA-Mist Note 4-5. Unsere können nichts, unmöglich. Scheiße.“ 1967 darf er wieder studieren und wechselt ins Fach Bühnenbild.

Das Leben bleibt für Schleef Dauerkrise: „Ich bin kaputt. Endgültig. Zu lange gefackelt.“ Mit diversen Frauen – „Die eine im Kopf, die andere im Arm.“ – und zwei ungewollten Kindern erhöht er das Potenzial zur Unordnung. Seine jährlichen „Bestandsaufnahme“-Listen sollen Ordnung im Chaos schaffen – vergeblich. Die Zweifel bleiben: „Das Theaterleben verwirrt mich, ich bin ihm nicht gewachsen, fast glaube ich, daß ich keine Theaterbegabung besitze. Ich bin verklemmt, umgangsunförmig, leicht verletzbar, gereizt.“

Dennoch treiben ihn Können, Ehrgeiz und Kraft irgendwie voran. Eines weiß schon der 25-Jährige sicher: „DDR-Provinztheater mit mir Nein!“ Er wird 1971 Meisterschüler beim einstigen Brecht-Bühnenbildner Karl von Appen und bringt erste skandalträchtige Inszenierungen am Berliner Ensemble heraus, als Koregisseur zusammen mit B. K. Tragelehn.

Doch die Luft wird dünn für Schleef. Seine Produktionen werden abgesetzt oder behindert, Arbeitsmöglichkeiten werden ihm kaum noch geboten. Somit macht sich der 32-Jährige auf den Weg nach Westen: Von seiner ersten Auslandsarbeit am Wiener Burgtheater kehrt er 1976 nicht zurück. Die DDR-Erfahrung, die Brüche in und mit ihr waren für viele „deutsch-deutsche“ Künstler Material und Motor, mal mehr, mal weniger offensichtlich. Man denke nur an frühe Seitenwechsler wie A.R. Penck, Gerhard Richter, Georg Baselitz oder Uwe Johnson. Das gilt für Schleef zeitlebens in besonderem Maße.

Noch sein letzter Kotau in der DDR, seine „Ja“-Stimme bei der Volkskammerwahl ein paar Tage vor der Reise nach Wien, löst bei ihm lebenslange schuldhafte Erinnerungsarbeit aus: Dieser Wahltag wird im Tagebuch in grandiosen Szenen präsentiert. Ziellos und innerlich zerrissen läuft Schleef an jenem Sonntag durch Prenzlauer Berg, trifft auf Freunde, die alle ihre Gründe haben, an der staatlichen Farce teilzunehmen. Seine Mutter hatte ihn beschworen: „Geh zur Wahl. Junge, versprich mir das, gerade jetzt, sonst ist es aus mit dem Westen.“ Kurz vor 18 Uhr geht auch er, panisch, eigentlich zu spät: „Ich notiere, daß Sie dagewesen sind, der gute Wille zählt, höre ich von hinten. Meine Hand zittert.“

Auch ein anderer „Verrat“ (Schleef) belastet ihn immer wieder: Gerade wieder zum Studium zugelassen, unterschrieb er 1968 an der Hochschule offizielle Erklärungen, die den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der ČSSR, zur Beendigung des Prager Frühlings, begrüßten. „Papa bettelte am Telefon, ich solle unterschreiben, unterschreib, das bitten wir dich alle!“ Die literarische Präzision und die Bildhaftigkeit, mit der Schleef solche Seelenzustände, den existenziellen Wahn des DDR-Alltags obsessiv-wiederholend beschreibt, erinnern von Ferne an Szenen des französischen Schriftstellers Claude Simon. Wer wissen will, welche Dramen diese Diktatur produzierte, der schlage künftig nach bei Schleef.

Wie ein erratischer Block ragt dieses Tagebuch in die Gegenwart. Durch viele Zeitsprünge und hermetische Passagen ist es ebenso schwer konsumierbar wie einst sein Verfasser. Doch es lohnt, sich von Schleef überwältigen zu lassen. In der visuellen Kraft des Tagebuchs erkennt man die Handschrift eines Regisseurs wieder, der immer wieder Bilder herstellt. Man sieht die Szenen oft wie in einem Film vor sich, Regie und Hauptrolle: Einar Schleef.

Einar Schleef: „Tagebuch 1964-1976. Ostberlin“. Hg.v. Winfried Menninghaus, Sandra Janßen und Johannes Windrich. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2006, 480 Seiten, 30 Euro