Fahren wird im Stau erst schön

WARTEN Über 100 Kilometer zog sich eine Autoschlange vor der chinesischen Hauptstadt hin – und das fast zwei Wochen lang. Einreise für Brummis ist immer erst ab 22 Uhr

Bis Mitte September drohen immer neue Staus – so lange gibt es noch Baustellen

AUS PEKING JUTTA LIETSCH

Wer einsam ist und gern Bus fährt, dem empfiehlt sich ein Umzug nach Peking. Der Onlinedienst des Parteiorgans „Volkszeitung“ berichtete gestern von der Idee eines gewissen Fräulein Gong: Die Pekingerin organisiert einen Linienbus fürs Kennenlernen. Unter dem Motto „Liebe auf dem 3.Ring“ steigen kontaktsuchende Passagiere allabendlich zur Hauptverkehrszeit in ihren Bus, der über die dritte Ringstraße fährt, eine der wichtigsten Verkehrsadern der 17-Millionen-Stadt.

Die Regeln sind einfach: Frauen dürfen nicht nebeneinander sitzen und Männer müssen alle sieben Minuten den Platz wechseln. 100 Interessenten hätten sich bereits angemeldet. Das Single-Treffen in „entspannter Atmosphäre“ habe vor allem die Büroangestellten der Hauptstadt im Visier, die tagsüber zu beschäftigt sind, um sich nach einem Mann oder einer Frau umzusehen, hieß es.

Das Anbahnungsmodell ist nur eine von vielen bemerkenswerten Ideen, auf die findige Chinesen kommen, wenn sie auf dem Weg zur Arbeit wieder einmal feststecken. Denn der Stau ist längst Alltag, und Metropolen wie Peking droht, so prophezeien Verkehrsexperten, schon in wenigen Jahren der Kollaps: Allein in der chinesischen Hauptstadt werden täglich 1.900 Autos neu zugelassen.

Experten schätzen, dass sich die Zahl der Pekinger Autos von derzeit über vier Millionen in den nächsten fünf Jahren auf sieben Millionen erhöhen könnte, wenn das Wachstum nicht begrenzt wird. Dann dürfte die durchschnittliche Verkehrsgeschwindigkeit von derzeit rund 25 Stundenkilometer auf 15 Stundenkilometer sinken.

Die Pekinger Behörden haben in den vergangenen Jahren mit allerlei Tricks versucht, den Verkehr zu managen – ohne die Autoindustrie zu verärgern: Die Bewohner dürfen zwar unbeschränkt viele Autos kaufen, müssen ihren Wagen aber an einem Tag in der Woche stehen lassen. Pkw, die älter als zehn Jahre sind, werden in Peking gar nicht mehr zugelassen. Die Folge: Man kriecht umgeben von lauter glänzend neuen Wagenmodellen über den Asphalt. Lastwagen dürfen nur in den Nachtstunden durch die Hauptstadt rollen, sie müssen am Morgen wieder verschwunden sein.

Für die vielen tausend Lastwagenfahrer aus den umliegenden Provinzen, die Peking mit Lebensmitteln, Baustoffen, Kohle und allen nötigen Industrieprodukten versorgen, bedeutet das: Sie müssen täglich bis um 22 Uhr vor den Toren warten, bis sie eingelassen werden. Dort drängen sich die Brummis stets in endlosen Schlagen – oft Dutzende Kilometer lang.

Besonders berüchtigt ist die Situation auf der Nationalstraße G110 im Nordwesten, die ihren Spitznamen „Tibet-Highway“ den zum Teil schmalen und steilen Windungen über die Berge vor Peking verdankt. Erst gestern gelang es der Polizei, den jüngsten Megastau aufzulösen, der zeitweise bis zu 100 Kilometer lang war. Ein paar Baustellen und kleinere Unfälle hatten seit dem 14. August dafür gesorgt, dass die wichtigste Versorgungsroute aus den umliegenden Provinzen Hebei und aus der Inneren Mongolei vollständig dicht war. Während die Bilder von zermürbten und resignierten Fahrern über die Bildschirme des chinesischen Fernsehens flimmerten, gaben Funktionäre allerdings alles andere als Entwarnung: Bis Mitte September drohen immer neue Staus – so lange sollen die Straßenreparaturen noch dauern.

Auch wenn es gewöhnlich etwas schneller vorangeht als derzeit: Wartezeiten von einem Tag vor der Stadt gehören zu den Dingen, die ganz üblich sind. Weil die Löhne niedrig ausfallen und sie das Benzin oft aus eigener Tasche zahlen müssen, ziehen viele Fahrer es vor, auszuharren und nicht über alternative Routen oder Mautstraßen zu fahren. Die Dörfler am Wegesrand haben sich bereits darauf eingerichtet, von ihren Mopeds oder Fahrrädern aus Instantnudeln und heißes Wasser aus Thermoskannen teuer an die Kutscher zu verkaufen.