Knirschende Gegenwart

Politische Kommentare zur aktuellen Lage sind nicht unbedingt das, was man von Techno-Produzenten erwartet, erst recht nicht in ihrer Musik. Seit einiger Zeit jedoch artikuliert sich die Sprache dieser scheinbar weltvergessenen Beatlieferanten zunehmend dunkel und bedrohlich. Luca Mortellaro alias Lucy sieht die elektronische Musik sogar in besonderer Weise dazu geeignet, gesellschaftliche Fragen zu stellen und zu kommentieren. Vielleicht nicht mit eindeutigen Parolen oder Imperativen, dafür aber umso mehr mit Stimmungen, die sich direkt über den Körper mitteilen.

Seit seinem Debütalbum „Wordplay for Working Bees“ von 2011 bewegt sich der Betreiber des Berliner Labels Stroboscopic Artefacts zwischen Club und Klangkunst. Im vergangenen Jahr hat er mit Techno-Veteran Speedy J unter dem Namen Zeitgeber sein bisher abstraktestes künstlerisches Statement vorgelegt. Jetzt ist mit „Churches Schools and Guns“ das zweite Soloalbum von Lucy erschienen, auf dem er seinen nuancierten Clubansatz weiter verfeinert, zugleich aber noch abgründiger klingt als bisher.

Auch die Titel seiner Tracks deuten darauf hin, dass es Lucy um mehr geht als Sounddesign und fein gearbeitete Texturen: „Human Triage“ (zu Deutsch: menschliche Selektierung), „Follow the Leader“ oder „The Illusion of Choice“ liefern pessimistisch eingefärbte Schlagworte zu einer Gegenwart, in der es an vielen Ecken knirscht, doch geht es Lucy weniger um Resignation als um Zustandsbeschreibungen. Die Bewegung komm bei ihm, in welcher Gestalt auch immer, aus der Musik selbst.

Auch David Letellier konzentriert sich mit seinem Soloprojekt Kangding Ray auf die eher düster-unheilschwangeren Facetten der elektronischen Musik. „Solens Arc“ heißt sein jüngstes Album, in dem der Wahlberliner verschiedene Ansätze von pumpendem Beat sich nach und nach in Rauschen, Schaben und Brummen auflösen lässt.

Wie in einem Vexierspiel inszeniert Kangding Ray virtuos die Momente des Kippens ins Ungewisse, schafft Szenarien der Ambivalenz, in denen Schallwellen ebenso sehr für befreiten Tanz sorgen wie Zerstörung zum Ausdruck bringen können. In all dem digitalen Brodeln verbirgt sich dennoch eine zerbrechliche, stille Schönheit, die von Hoffnungen jenseits des anbrandenden Lärms erzählt. Es liegt ganz bei den Ohren und Körpern der Hörer, was sie daraus machen.

TIM CASPAR BOEHME

■  Lucy: „Churches Schools and Guns“ (Stroboscopic Artefacts/ Alive)

■  Kangding Ray: „Solens Arc“ (Raster-Noton)