Andere Zeiten für „Andere Seiten“

Nach sechs Jahren gibt der Buchladen in der Brunnenstraße auf. Inhaber Gerald Grüneklee sieht die Gründe im Trend zur kulturellen Einöde und der Konsummentalität der Alternativszene im Viertel. Nun steht der Räumungsverkauf an

„Lesen ist die Software fürs Hirn.“ Groß eingeglast prangt es an der ockergelb gestrichenen Wand, gleich neben dem Eingang. Doch der Sinnspruch des Buchladens „Andere Seiten“ in der Brunnenstraße, jahrelang eine Szene-Institution, kommt bei den Viertel-Bewohnern nicht mehr an. Ende September schließt der Laden samt Antiquariat seine Pforten – wegen mangelnder Nachfrage.

Dass jetzt nach sechs Jahren Schluss ist, schreibt Inhaber Gerald Grüneklee auch dem mangelnden Verständnis der alternativen Szene zu. Wegen zunehmender „Discount-Mentalität“ würde anspruchsvolle Literatur nicht mehr wertgeschätzt. „Anstatt politische Projekte und Initiativen zu unterstützen, geben die Leute im Viertel lieber ihr Geld in Clubs und Modeläden aus“, sagt der 40-Jährige mit den angegrauten, etwas zerzausten Haaren. Kritisches Engagement werde nicht mehr honoriert: „Du kriegst da immer nur einen Tritt.“ So würden KundInnen Preise von über einem Euro für ein antiquarisches Buch bereits als „Wucher“ auffassen. Das Viertel, ärgert sich Grüneklee, verkomme zu einer „kulturellen Einöde“.

Aber auch die Internet-Konkurrenz hat dem Laden zu schaffen gemacht. Zwar bringt auch der seine Bücher längst online unter die Leute – und wird es auch weiterhin tun. Ein Ladenlokal ließe sich damit allerdings nicht unterhalten. Auch inhaltlich bedauert Grüneklee den Trend vom „Buchcafé“, wie es „Andere Seiten“ sein wollte, zum Internet-Buchshop: „Das Schmökern bleibt leider auf der Strecke.“

Sechs Jahre lang stand der Laden in der Brunnenstraße für ein umfassendes Literaturangebot aus verschiedenen gesellschaftskritischen Strömungen. Judaica und Exilliteratur gab es hier, dann natürlich die Klassiker, Brecht, Lenin, Marx, auch der Anarchismus hatte seinen festen Platz. Interessierte fanden den russischen Theoretiker Bakunin ebenso wie Bücher über Anarchosyndikalismus in Spanien. Sogar eine CD mit der Parteihymne der Anarchistischen Pogo Partei Deutschlands (APPD) steht im Regal. Neueres findet sich ebenso: von Michael Moores „Stupid White Men“ bis zum „Hartz-IV-Kochbuch“ für „harte Zeiten“. Außerdem: einige Independent-Platten, fair gehandelter Zapatisten-Kaffee der Marke „RebelDía“ und diverse T-Shirts, Aufnäher, Postkarten, Buttons.

Der Laden ist voll bis unter die Decke. Kaum zu glauben, dass es hier auch Lesungen gab. „Das ist gar kein Problem“, sagt Sabine Helmbrecht. „Wir schieben dann einfach die mittleren Regale zur Seite.“ Die 37-Jährige war von Anfang an dabei. Ursprung des Projekts war Gerald Grüneklees Anares-Versand bei Hannover. Grüneklee wollte sich damals umorientieren und mit seinem Verlagsbestand in Bremen ein Literaturcafé gründen. Dort starteten sie zu viert, übrig geblieben sind Grüneklee und Helmbrecht.

Aufgeben wollen die beiden nicht. „Unser Online-Shop läuft weiter“, sagt Grüneklee. Und einen Laden soll es auch wieder geben – wie, wo und wann ist noch nicht klar. Möglichst aber im Viertel und vielleicht in Zusammenarbeit mit anderen Antiquaren. „Das genaue Konzept müssen wir uns noch überlegen“, sagt Helmbrecht. Bedingung dürfte sein, dass sich zumindest dann der Spruch am Laden-Tresen bewahrheitet: „Hier wird Kasse gemacht.“ Thor

„Andere Seiten“, Brunnenstraße 15-16, „Abschiedflohmarkt“ vom 22.8.-16.9.