„Vergessen Sie Vater und Sohn“

Peter Voigt

„Angeregt durch Brecht, der das Kommunistische Manifest in Hexametern nachgedichtet hat, kam ich auf die Idee, das Manifest als Animationsfilm zu machen. Damit schien ich mehr Ruhm ernten zu können als mit Theater“

„Kein Mensch nimmt mehr ein Stück Brot von dir, wenn du an dieses kommunistische Propagandatheater gehst“, sagte Voigts Vater, als er von den Plänen seines Sohnes hörte. Voigt nämlich trieb es an das Berliner Ensemble zu Bertolt Brecht. Gerade mal zwanzigjährig, wird er sein jüngster Assistent. Vom Eindruck, den Brecht, der heute vor 50 Jahren starb, auf ihn machte, hat Voigt sich nie gelöst. Später wurde er Dokumentarfilmer in der DDR. Durch seine poetische Schnittführung allerdings versuchte er die Wirklichkeit, die er abbildete, zu verfremden. Auf diese Weise verwirklicht er die formgebende Dialektik seines Lehrmeisters in seiner Arbeit bis heute

INTERVIEW WALTRAUD SCHWAB

taz: Herr Voigt, buchstabieren Sie doch mal Brecht.

Peter Voigt: Da fällt mir jetzt nur das normale Alphabet ein: B wie Bertolt.

Nicht R wie Revoluzzer, E wie Emigrant, Ch wie Charisma?

R wie Revoluzzer, da würde ich nicht draufkommen.

Und wofür stünde das T?

T wie … wie Text oder Theater.

Ja, natürlich Theater.

Und warum nicht Text?

Weil Brecht in die Tiefe gegangen ist, ins Dreidimensionale.

Die Tiefe ist eine Dimension, in der man nicht vorwärts kommt, hat er gesagt. Schade, dass kein M drin vorkommt.

Wofür stünde es?

Für Melancholie. Lesen Sie seine Lyrik. Dort ist Melancholie ein durchgängiger Zug. Für mich ist seine Lyrik das Stärkste. Da kommt er mir nah.

Dann sind Sie der Melancholiker, nicht Brecht.

Nein. Wenn er eine melancholische Seite bei mir anrührt, dann ist er der Melancholiker.

Wie war es, als er vor 50 Jahren starb?

Unbegreiflich. Alle waren geschockt. Ich kam ins Theater und da war er tot. Weltende. Ein paar Tage später schenkte mir die Weigel seinen Mantel.

Wie wirkte er vor seinem Tod?

Schwach. Er gab sich sonderbar alt – er gab sich älter als er war.

Sie waren 30 Jahre jünger als er. War sein Wort für Sie Gesetz?

Sein literarisches Wort ja.

Und wenn er Sie zurechtwies?

Dann hatte er auch Recht. Wenn er sagte: Voigt, Sie arbeiten nicht mit, Sie träumen. Leute, die träumen, können wir hier nicht brauchen – dann hatte er auch Recht. Ich war ein Träumer, ein Taugenichts, ein ganz unproduktiver Jünger.

Sie waren zweieinhalb Jahre lang sein Assistent. Sein jüngster Assistent. Wie sind Sie das geworden?

Durch Protektion. Ein ehemaliger Regisseur vom Berliner Ensemble arbeitete mit meinem Vater, der Operndirektor in Leipzig war, zusammen. Der hat mich Helene Weigel empfohlen.

Wollten Sie dahin?

Ich wollte nichts anderes. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, was der Name Brecht, das Werk Brechts damals bedeutete. Das war das Wichtigste überhaupt.

Wieso war es wichtig?

Es war das vollkommen andere: Es war gegen das Spießertum. Es war gegen die Väter. Es war gegen das Restaurative. Es war der Intellekt, der aus seinen Sachen sprach. Die Helligkeit und Heiterkeit des Intellekts. Es war etwas, das wir, die wir aus dem Nazireich kamen, nicht für möglich gehalten haben.

Sie waren, nach eigenen Worten, ein Taugenichts. Gleichzeitig wollten Sie zu Brecht – passt das zusammen?

Man muss nicht was taugen, um wo hin zu wollen.

Vorher sagten Sie, Brecht sei gegen die Väter gewesen. War er für Sie ein Übervater?

Kann man so sagen. Ich sage es nicht.

Trotzdem sind Sie ständig bestrebt, das, was Sie meinen, was er meinte, an die Öffentlichkeit zu bringen.

Und darin glauben Sie, erfüllt sich die Funktion des Übervaters? Wenn man genau hinguckt, kann man bei Brecht immer erfahren, wie es gemeint ist. Was an Brecht damals bestach, das war natürlich die Radikalität seiner Texte. Das war Brecht der Aufklärer. Nehmen Sie so einen Satz: „Unsere Gegner sind die Gegner der Menschheit. Sie haben nicht Recht von ihrem Standpunkt aus. Das Unrecht besteht in ihrem Standpunkt“ – das sind Radikalitäten, die Charme haben.

Sie können Brecht genau zitieren.

Dass man sich seine Texte merken kann, hat mit seiner Art zu schreiben zu tun. Jeder Begriff steht an der Stelle, an der er stehen muss. „Unsere Gegner sind die Gegner der Menschheit“ – so, was wollen Sie? – „Sie haben nicht recht von ihrem Standpunkt aus. Das Unrecht besteht in ihrem Standpunkt“ – das merkt sich von selber. „Und der Haifisch der hat Zähne und die trägt er im Gesicht“ – was wollen Sie da noch interpretieren? Ihn hat das Epigramm interessiert. Das Lakonische. Diese Sprachwaschung.

Hat der Haifisch ein Gesicht? Gesicht ist doch mit Mimik, mit Kommunikation verbunden.

Der Haifisch zeigt seine Zähne. Er zeigt sie offen. Das ist Gesicht. Aber Macki Messer hat ein Messer und das Messer sieht man nicht. Das schaukelt sich auf.

Das heißt, das R in Brecht könnte auch für Radikalität stehen?

Im Denken, im Ansatz, im Weltbild ja.

Sollte sich durch unseren Gesprächsverlauf zeigen, dass Brecht für Sie ein Übervater war…

… das halte ich nicht für bewiesen. Sie möchten darauf hinaus. Ich brauche jetzt mit 73 keinen Übervater. Ich habe ihn lange überlebt. Vergessen Sie Vater und Sohn.

Kann man Ihre Haltung zu Brecht dann wenigstens als überidealisierte Verehrung bezeichnen?

Ja, warum nicht. Aber entschuldigen Sie, er war doch schon mein Idol, bevor ich zu ihm kam. Als ich zu Brecht kam, kam ich doch schon von Brecht. Ich hab’ mit 20 jede Zeile von ihm gekannt, die mir unterkam.

Brecht ist nie weniger für Sie geworden im Laufe der Jahre?

Natürlich ist er mehr geworden. Was meinen Sie, was das für mich war, als er zum ersten Mal auf mich zu kam, mir die Hand hinstreckte und sagte: „Brecht.“ Das war nicht einzuordnen. Das war so, wie wenn einer auf dich zukommt in einer weißen Toga, dir Hand gibt und sagt: „Jesus.“

Das ist mehr als Übervater, das ist Gott.

Das können Sie einem 20-Jährigen doch zubilligen. Das hat sich später ja auch verloren.

Mal etwas trivialer: Einmal waren Sie und Brecht in die gleiche Frau verliebt, in das Dienstmädchen Lisa.

Nein. Ich war in Lisa verliebt, nicht Brecht. Das war in den Theaterferien bei ihm draußen in Buckow. Die Lisa-Geschichten werden gern so verbreitet: der Schürzenjäger eben. Um über den Brecht was zu erzählen, haut man eben rein. Das ist ja legitim

Gut, aber Brecht und seine Frauengeschichten sind legendär. Sind einige Frauen nicht sehr unglücklich geworden durch Brecht?

Jedenfalls hat er sie produktiv gemacht. In der Liebe gibt es Katastrophen.

Die Frauen sind nicht an Brecht verzweifelt, weil er sie ausgenutzt hat?

Ausgenutzt – weiß ich nicht. Soweit ich sehen konnte, hat er sich rührend und mit großer Aufmerksamkeit um seine Freundinnen gekümmert.

Oder sind sie verzweifelt, weil er sie hat fallen lassen?

Natürlich, das kann sein.

Sie schreiben: April 1954. Ich bin 20 und ausgerüstet mit allen Tugenden der Autoritätshörigkeit. Mit unkritischer Neugier, unbedingtem Respekt, wacher Demut. – Hat Ihre Nähe zu Brecht daran rütteln können?

Brecht war eine natürliche Autorität. Wissen Sie, der Satz wurde für den Einstieg in meinen Film „Der Zögling“ geschrieben. Autoritätshörigkeit, so ein Wort macht neugierig, weil es ja was ganz Schlimmes ist. Ich bekenne mich aber dazu.

Wie ging es in Ihrem Leben weiter nach seinem Tod?

Ich bin vom Theater weggegangen. Ich merkte, das ist nichts für mich. Als Regisseur muss man sich Schauspielern verständlich machen.

Sie sind eher ein Einzelgänger?

Kann sein. Aber mich interessierte etwas anderes: Zu der Zeit war der Trickfilm eine Kunst im Aufbruch in Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien. Nicht Mickey Mouse, sondern Dostojewski im Zeichentrickfilm. Angeregt durch Brecht, der das Kommunistische Manifest in Hexametern nachgedichtet hat, kam ich auf die Idee, das Kommunistische Manifest als Animationsfilm zu machen. Damit schien ich mehr Ruhm ernten zu können als mit Theater. Überhaupt die Marx’schen Konzepte als Filmvorlagen, die Mehrwerttheorie als Trickfilm. Aber da führte kein Weg hin in der DDR. Immerhin kam ich so zum Film und wurde Dokumentarfilmer.

Ihre Themen sind meist historischer Art: Weberaufstand. Schlachtfelder, Pariser Kommune. Dazu Porträts wie jenes von Erich Mühsam. Ihre Filme wirken, als seien Sie aus der Antithese zum BRD-System heraus konzipiert.

Das ist doch natürlich, weil ich nicht BRD war. Geben Sie ein Beispiel.

Etwa Ihre Filme über Berufsverbote oder Arbeitslosigkeit in der BRD. Über ähnliche Phänomene in der DDR berichten Sie nicht.

Einen Film über Berufsverbote in der DDR hätte ich in der DDR nicht genehmigt gekriegt. Und um Arbeitslose zu finden, musste man nun wirklich in die BRD gehen. Ich hab’ mit denen dann nicht über Arbeitslosigkeit, sondern über Arbeit geredet. Da erkennen Sie den Einfluss von Brecht.

Haben Sie, trotz der Hindernisse, die DDR infrage gestellt?

Nein.

Bis zur Wende nicht?

Doch. Aber nicht in den Filmen. Die DDR kommt darin nicht vor. Im letzten Film, den ich in der DDR gemacht habe, „Knabenjahre“ heißt er, ging es um meine Hitlerjungen-Generation.

Ich wage die These, dass Sie sich in Ihren Filmen inhaltlich nicht von der DDR-Ideologie gelöst haben, wohl aber formal. Brecht versucht die Realität an der gespielten Abbildung zu brechen. Sie wiederum versuchen durch eine poetische Kameraführung die Realität zu brechen.

Nicht durch die Kameraführung, sondern durch die Montage. Das ist natürlich Brecht. Und Eisenstein. Und Godard.

Welche Möglichkeiten bot Ihnen die Wende 1989?

Ich konnte Themen bearbeiten, die ich in der DDR nicht hätte angehen können. Ich konnte einen Film machen über die fürchterlichen Probleme, die so ein großer Mann wie Ernst Busch mit den Behörden und der Partei hatte.

In letzter Zeit haben Sie sich wieder stärker auf Brecht bezogen. Warum?

Weil ich alt genug bin, mir zu sagen, ich muss jetzt die Filme machen, die nur ich machen kann. Solche, die mit Brecht zusammenhängen. Ich hab’ auch kein anderes Interesse mehr.

Dass Sie Brecht zweieinhalb Jahre kannten, ist das große Glück in Ihrem Leben?

Natürlich.

Dann haben Sie hier nun die Chance, was Schlechtes über ihn zu sagen.

Hm … Sie sehen, wie lange ich nachdenken muss. In der Erinnerung kann ich nichts feststellen, was schlecht an ihm war. Wenn Sie auf die Buchstaben in Brechts Namen zurückkommen: Ich würde das R jetzt mit Redlichkeit übersetzen. Er war, glauben Sie’s oder nicht, ein redlicher Mensch.