Die Uhr tickt

Post aus Nahost (14): Ron Kehrman wäre gern zur rechten Zeit am richtigen Ort – aber das ist fast unmöglich

Wie oft wünschen wir uns mehr Zeit, um diese oder jene Angelegenheit vernünftig zu einem Ende zu bringen? Timing ist in einer normalen Welt schon wichtig, in Kriegszeiten aber ist es eine Frage von Leben und Tod.

Selbst beim Alltag zuhause verlieren wir die Uhr nie aus den Augen. Beim Kochen beispielsweise sorgen wir dafür, dass die Zutaten zur rechten Zeit in den Kochtopf kommen, damit das Ergebnis auch schmeckt. Wenn wir einen Zug, ein Flugzeug oder einen Bus bekommen müssen, dann richten wir es so ein, dass wir den Zug, das Flugzeug oder den Bus auch wirklich erreichen. Wie oft habe ich mir gewünscht, dass meine Tochter Tal ihren Bus verpasst hätte?

Ihren Bus der Linie 37, den sie am 5. März 2003 bestiegen hat – der Bus, in den um 14.14 Uhr der Terrorist zugestiegen ist, um meine Tochter, sich selbst und 15 andere Menschen zu töten; neun davon Schüler. Unter den Opfern waren auch Christen, ein Muslim und eine junge Drusin.

Wie oft habe ich seitdem mit der universellen Uhr gespielt, dieser Uhr, die nicht verstellt werden kann, die Narben in unsere Gesichter gräbt und unsere Leben für immer verändert? Diese Große Uhr, die uns mal Freude, mal Kummer bringt?

Nach Tals Tod haben mich viele Fremde (nie Israelis!) gefragt, warum sie ausgerechnet diesen Bus genommen hat, warum sie nicht ein anderes Transportmittel benutzt hat. Wäre es nicht sicherer gewesen, zu laufen? Sollte man nicht besser ein Taxi rufen? Sollte man lieber diese oder jene Straße nehmen? Meine Antwort ist, dass man das nie wissen kann. Die Wahrheit ist, es könnte überall passieren.

Es ist für mich immer eine Frage von Glück oder Schicksal; je nachdem, wer fragt. Für einen Atheisten ist es Glück, für einen religiösen Menschen Schicksal, aber am Ende läuft es immer auf dasselbe hinaus: Über diesen Teil unseres Lebens haben wir keine Kontrolle.

Die gleiche Frage stellt sich derzeit im Kriegsgebiet täglich aufs Neue. Wie oft schon haben wir von Zivilisten auf beiden Seiten gehört, die in einem Haus oder auf der Straße von einem Volltreffer getötet wurden? Warum konnten diese Leute in diesem Augenblick nicht woanders, in Sicherheit sein? Immer und immer wieder habe ich mir seit Tals Tod diese Frage gestellt, und meine Antwort ist immer und immer wieder: Es ist Timing, schlechtes Timing. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort.

Wer aber schaut überhaupt auf diese universelle Uhr? Diese Uhr, die unser aller Leben berührt, werden ihre Zeiger überhaupt von jemandem gelesen? Oder nur von mir, der ich den Krieg kenne? Ich glaube, ich bin der Einzige! Das ist eine der Narben, die ich mit mir trage, seit ich meine Tochter in diesem Bus der Linie 37 verloren habe.

Vor ein paar Tagen ist Haifa wieder einmal von einer Rakete getroffen worden, die ein riesiges Loch in die Hauptstraße schlug – diese Straße, die mein Heimweg ist. Jetzt soll es eine Resolution über einen Waffenstillstand geben; Resolution Nummer 1701 wurde am Wochenende von der UNO verabschiedet. Ich hoffe, dass von nun an alles nur noch eine Frage des Timings ist, zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein.

Ron Kehrman (Haifa) schreibt im Wechsel mit Iman Humaidan Junis (Beirut) aus dem Kriegsgebiet. Aus dem Englischen von Arno Frank