Revolten im Westen

AUFSTAND Die Polizeigewalt in Kiew hat die Situation auch in den Regionen eskalieren lassen. Überall im Westen wurden Verwaltungsgebäude besetzt oder Polizeireviere gestürmt. Die Macht des Präsidenten schwindet immer weiter

Die Wut der Menschen auf das verhasste System ist hier regelrecht zu spüren

AUS LEMBERG JURI DURKOT

Vor dem Bezirkskommissariat in Lemberg sieht es gespenstisch aus. Auf der Straße qualmt es, verkohlte Papierfetzen fliegen umher. Drei umgekippte Polizeiautos liegen völlig ausgebrannt auf der Straße. Überall der beißende Geruch. Die Fenster in dem Gebäude sind zerschlagen, auf den Stromleitungen hängen Uniformstücke der Polizisten. Von diesen selbst keine Spur. Vor dem Eingang in das Gebäude steht eine improvisierte Absperrung. Einige vermummte junge Männer versuchen, das Gelände aufzuräumen. Doch ihre wichtigste Aufgabe ist es, die Schaulustigen fernzuhalten.

Im Gebäude selbst ist alles total demoliert. Von der Schaltzentrale ist nichts übrig geblieben, nur das stark beschädigte Funkgerät krächzt irgendwo unter dem Tisch. Kein Empfang. „Es ist wie ein Bürgerkrieg, sagt Mykola, der junge Mann in der gelben Jacke von der Selbstverteidigung. „Wir sind hier, um das Gebäude vor dem Vandalismus zu schützen. Doch als wir am frühen Morgen da waren, gab es hier nicht mehr viel zu schützen.“

Es ist das Resultat des nächtlichen Sturms auf das Bezirkskommissariat. Die Wut der Menschen auf das verhasste System ist hier regelrecht zu spüren. Die Polizeigewalt in Kiew am Tag zuvor hat die Situation auch in den Regionen eskalieren lassen. Fast in allen westlichen Regionen des Landes wurden Verwaltungsgebäude besetzt, aber auch Polizeikommissariate, Nachrichtendienstzentralen, Staatsanwaltschaft oder Finanzämter gestürmt, jene Behörden, die in der Ukraine in letzter Zeit wegen Korruption und Willkür einen besonders schlechten Ruf bekommen haben. Und die Andersdenkende verfolgt haben.

Auch in einigen Städten in der Zentralukraine und sogar östlich von Kiew blockieren die Menschen Polizeipräsidien und Regionalverwaltungen. In Ternopil und Iwano-Frankiwsk ist die Polizei wohl auf die Seite des Volkes übergetreten, in anderen Städten ist sie nicht mehr zu sehen. So will Lemberg jetzt eine eigene Stadtpolizei bilden, um die Lage unter Kontrolle zu halten. Etwas außerhalb des Stadtzentrums auf einer Ausfallstraße nach Süden liegen die Kasernen des Innenministeriums. Oder besser gesagt das, was von ihnen geblieben ist. Das Dach ist eingestürzt, aus den Fenstern dringt dicker Qualm. Wochenlang haben die Menschen die rund 300 Zeitsoldaten des Innenministeriums hier blockiert, um die Einheit nicht nach Kiew ausrücken zu lassen. Die Soldaten haben ihre Mütter selbst gebeten, die Ausfahrten zu blockieren. In der Nacht kam es zu einem Ausbruchsversuch. Die Soldaten warfen Blendgranaten in die Menschenmenge, einige Personen wurden verletzt. Ein Mannschaftswagen versuchten, die Barrikade zu rammen. Ganz schnell ist die Menge der Protestierenden auf über 5.000 Mann angewachsen. Sie antworteten mit Molotowcocktails, bald stand die Kaserne in Flammen.

In mindestens sieben Regionen im Westen des Landes haben die Regierung und der Präsident die Kontrolle total verloren. Kiew hat auch nicht mehr die Ressourcen, um die Lage in den Regionen zu beherrschen. So muss sich der Präsident damit abfinden, dass seine Macht immer weiter schwindet, auch wenn er das stur nicht akzeptieren will.