Nichts als Vögel im Kopf

Ein streng geschützter Ornithologen-Traum zwischen Jadebusen und Wesermündung: Vogelschützer auf Mellum brauchen weder Glotze noch fließend Wasser. Ein Leben mit Ebbe und Flut

von MellumKAI SCHÖNEBERG

Für den einen sind es Flugzeuge, für den anderen Lokomotiven. Robin Sandfort aus Göttingen sammelt Vögel. 220 verschiedene Exemplare hat der 23-Jährige aus Göttingen schon auf seiner „Life List“ zusammen, Frank Schulze erst 105. Der Biodiversitäts-Student Sandfort und der 19-jährige Zivi aus der Nähe von Chemnitz haben zurzeit nichts als Piepmätze im Kopf. Sie haben kein fließendes Wasser, die WM hörten sie nur im Radio, einfach mal nach Hause fahren können sie auch nicht, weil der Versorgungskutter nur wochenweise Lebensmittel auf Mellum schippert. Aber Fernseher braucht hier kein Mensch, nur Fernrohre. „Auch abends setzen wir uns raus und beobachten Vögel– das wird nie langweilig“, sagt Schulze.

Im Süden die Landungsbrücken und Schornsteine von Wilhelmshaven, gen Norden nichts als Meer, mittendrin Salzwiesen, Priele, Sandbänke und Natur pur – das ist die Vogelinsel Mellum zwischen Jadebusen und Wesermündung, ein streng geschützter Ornithologen-Traum mitten im Wattenmeer. Der sandgrüne Non-Place ist nur zwischen März und Oktober von ehrenamtlichen Naturschutzwarten bewohnt. Über einer Tür im einzigen Haus auf der Insel steht „Königliche Eiderenten-Suite“, in den kärglichen Zimmern schlafen sie auf dünnen Matratzen, geduscht wird mit dem Eimer.

Die Vogelschützer leben mit Ebbe und Flut. „Bei höherem Wasser stehen 16.000 Vögel am Strand“, sagt Frank Schulze. Der Tidekalender bestimmt also, wann er aufstehen muss, Striche in ein Büchlein einträgt, Vögel zählt oder, besser gesagt, „fundiert“ schätzt. Rotschenkel, Kornweihen, Schwarzkopfmöwen, Fluss und Küstenseeschwalben tippt Schulze abends in den Laptop – die Daten sind Futter für das Institut für Vogelforschung in Wilhelmshaven. Heiko Röpke war schon in den Sechzigern zwei Mal Vogelschutzwart auf Mellum. Nun verbringt der Psychotherapeut wieder vier Wochen auf der Insel – für eine Aufwandsentschädigung von gut 200 Euro. Für den Senior aus dem Norden Schleswig-Holsteins ist Mellum eine Art Seelenreinigung: „Hier kann man sich mit sich selber auseinander setzen – und das muss man auch.“

Die Weissbartgrasmücke, ein „Irrgast“ aus der Sahara, war schon da, erzählt Zivi Schulze begeistert. „Wir haben auch Löffler gefangen und beringt – ein genialer Vogel.“ Die Stelzvögel mit dem löffelförmigen Schnabel siedeln sich seit Jahren langsam aus Südeuropa Richtung Norden. Ist ja auch wunderschön hier. „1994 wurden die ersten Vögel der Ibis-Art auf Mellum gesichtet, mittlerweile sind es 32 Paare“, sagt Gregor Scheiffarth. Auch der Vogelschutzexperte ist von Mellum beglückt. Scheiffarth erzählt, dass die Zahl der Silbermöwen abnimmt, weil immer mehr Müllkippen geschlossen werden, dass der Austernfischer schwindet, weil es immer weniger Muscheln gibt. Und von der Waldmaus, die sich auf Mellum schon fast zu einer eigenen Art entwickelt hat. Scheiffahrt: „Die Insel ist halt vollkommen ungemanagt.“

„Das Schilfgras kommt zuerst, dann der Queller“, sagt Jörn Wrede, Vorsitzender vom Mellumrat, der Organisation, die sich seit 1925 ehrenamtlich um die Insel im Hohe-Wege-Watt kümmert. Die Pflanzen verfestigen mit ihren Wurzeln den von Westen her aufgespülten Sand. Durch die botanische Landnahme hat sich Mellum seit Anfang des vergangenen Jahrhunderts von sieben auf heute 750 Hektar vergrößert, das ist so groß wie Baltrum. Inzwischen wachsen hier 200 Pflanzenarten. Hans-Heinrich Sander knuspert an den gummiartigen Queller-Blättern: „Probieren sie mal, meine Damen“, sagt der FDP-Umweltminister aus Hannover, der an diesem schönen Tag seiner Sommerreise besonders gerne mit einer mitreisenden Redakteurin schnackt. „Schmeckt gut, ist nahrhaft und salzig.“ Übrigens: Der Queller soll auch als Potenzmittel wirken.

Weil die ersten Touristen von Norderney zum Jagen und Eiersammeln auf die Insel geschifft wurden, gründete sich 1925 der Mellumrat, um das Eiland zu schützen. „Das ist der absolute Kern des Nationalparks, da, wo alles begann“, sagt Peter Südbeck, der Chef des Nationalparks Wattenmeer, der bereits über 400 Vögel auf seiner „Life-List“ verewigt hat. Im zweiten Weltkrieg wurde auf Mellum ein Deich für Flakanlagen und Bunker gebaut, die die Marine in Wilhelmshaven schützen sollten. Auf einem der verrottenden Betonklötze hat der Mellumrat einen Ausguck montiert, in einem Bunkerzugang ein Plumpsklo gebaut. Heute kommen Besucher nur noch mit Sondererlaubnis auf die Insel. Vielleicht 200 Vogelinteressierte bringt die MS Möwe von Hooksiel pro Jahr nach Mellum.

Aber auch dem kleinen Paradies droht Ungemach. Durch die geplante Aufschüttung des nur wenige Kilometer entfernten Jadeweserports in Wilhelmshaven könnten sich die Strömungsverhältnisse in der Jade ändern, fürchtet Mellumrat Wrede. Ob der Hafen und die Riesenpötte der Insel wirklich schaden, sei aber noch nicht absehbar. Sander überlegt, „von den Ausgleichszahlungen für die Hafenanlagen etwas für Mellum abzuzweigen“. Auf der Insel „kann man nicht viel machen, vielleicht die Bunker beseitigen“, sagt Wrede. Oder den gestrandeten Müll und den Bauschutt von der letzten Hausrenovierung beseitigen. Sander will dafür demnächst ein Boot vorbeischicken. Der Mann vom Mellumrat wirkt in Anwesenheit des Ministers, der bereits vielen Naturschützern die Mittel gekappt hat, besonders vorsichtig. Wrede: „Man muss versuchen, Kompromisse einzugehen. Der Tiefwasserhafen bringt ja auch Arbeitsplätze.“