Revolution im Faltenrock

Sie demonstrieren wieder: Nach zweimonatiger Pause sind Chiles Schüler zurück auf der Straße, um für ein besseres Bildungssystem zu kämpfen. Die Regierung kann nun zeigen, wie ernsthaft sie das eigentliche Problem angehen will: das Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich

VON COSIMA SCHMITT

Sie haben Plakate bepinselt und Pappen besprüht. Sie haben sich Trillerpfeifen um den Hals gehängt und ihr Emblem auf Hauswände gemalt: einen Pinguin mit einer Krawatte um den flauschigen Hals. Teenager mit Zahnspange und Faltenrock sind jetzt Routiniers des Generalstreiks.

„Die Revolution der Pinguine“ taufte Chiles Öffentlichkeit, was das Land in den vergangenen Monaten erlebt hat: Jugendliche, die ihren Spitznamen dem Design ihrer Schuluniformen verdanken, entfachten einen Massenprotest. Sie fordern ein Bildungssystem, das auch den Armen Aufstiegschancen gewährt. Sie wollen, dass die Regierung Reformen anpackt und nicht einfach zerredet. Im Mai und Juni verrammelten sie deshalb die Klassenzimmer und traten in den Streik. Im ganzen Land zogen Hunderttausende durch die Innenstädte. „Vor dreißig Jahren gab es in Chile die letzte soziale Bewegung. Ausgerechnet die Pingüinos haben jetzt das Land wachgerüttelt“, sagt Jorge Rojas Hernández, Bildungsforscher und Soziologe an der Universidad de Concepción. Mitte Juni hatte Präsidentin Michelle Bachelet die Schüler mit der Einberufung eines Bildungsrats beschwichtigen können. Doch vor einer Woche nun sind wieder Hunderte von Schülern auf die Straße gegangen.

Die Proteste könnten erneut aufflammen, wenn die Regierung nicht bald konkrete Reformpläne präsentieren kann. Denn die 15-Jährigen wissen nun nicht nur, wie sehr der Strahl eines Wasserwerfers auf der Haut brennt. Sie haben auch ein bis dato ungeahntes Gefühl der Macht erlebt: Wenn sie sich gut organisieren, können sie Minister stürzen und die Präsidentin in Bedrängnis bringen. Sie können erreichen, dass das Thema Bildung auf einmal ganz weit oben auf der politischen Reformagenda steht. Und sie können bewirken, dass eine ganze Nation über den Zustand in den Klassenzimmern diskutiert: die Leitartikler der Zeitungen ebenso wie der Rentner im Eckcafé.

Die Zeichen des Protests offenbaren sich derzeit an vielen Orten. Häuserfassaden und Friedhofsmauern sind jetzt mit Graffitis besprüht: „Bildung auch für Arme!“ oder „Reform statt Stillstand!“ steht da in knallbunten Lettern. Die Schüler hantieren mittlerweile gewandt mit Spraydose und Protestplakat. Ihre Wortführer debattieren sich routiniert durch die TV-Shows. Längst haben sich auch Studenten hinter den Teenie-Aufstand gestellt. „Diese 16-Jährigen sind die erste Generation seit dem Ende der Diktatur, die wie Staatsbürger auftreten. Sie wollen Politik nicht nur hinnehmen, sondern mitgestalten. Die Jugendlichen wollen Herren ihres eigenen Schicksals sein“, sagt Rojas.

Dass Chiles schulpflichtige Jugend eine Grundsatzdebatte anstoßen konnte, ist auch das Ergebnis einer weitverbreiteten Unzufriedenheit. Rein quantitativ betrachtet hat das Land seit dem Ende der Diktatur gewaltig aufgeholt. Kaum ein Chilene besucht nicht wenigstens ein paar Jahre die Schule. Die Analphabetenquote liegt bei unter 5 Prozent. Nur heißt das noch lange nicht, dass auch jeder die gleichen Chancen hätte. Das chilenische Bildungssystem ist hochselektiv. Wichtigstes Kriterium ist der Geldbeutel der Eltern. Das Grundproblem – Herkunft entscheidet über Zukunft – ähnelt also dem, was Bildungsforscher auch an Deutschland kritisieren. Nur sind die Unterschiede in Chile noch ausgeprägter. „Ein mittelmäßig begabter Schüler reicher Eltern hat immer noch viel mehr Chancen als der hochbegabte aus armem Elternhaus“, sagt der Student Christian Barrera, der in Santiago den Protest mitorganisiert.

Die Misere begann in den Schlusstagen der Diktatur. Pinochet übertrug seine Maxime, den freien Markt walten zu lassen, auch auf das Bildungssystem. Im März 1990, kurz vor seinem Abgang, erließ er ein Gesetz, das quasi jedem die Gründung einer Schule erlaubt. Seither lernt Chiles Jugend nach einem Dreiklassensystem. Gutbetuchte Kinder pauken in Privatschulen, deren Besuch etwa das kostet, was ein Durchschnitts-Chilene verdient. Sie bilden Geist und Körper in optimalem Ambiente. Dank des üppigen Schulgeldes können ihre Direktoren die besten Lehrer anwerben. Daneben finden sich öffentlich bezuschusste Privatschulen – und die dramatisch unterfinanzierten staatlichen Schulen. Lehrer dort verdienen so wenig, dass viele Nebenjobs annehmen müssen, um überhaupt eine Familie zu ernähren. Wer immer es sich leisten kann, schickt sein Kind auf eine Privatschule. Denn fast nur deren Schüler schaffen die Aufnahmeprüfung zur Uni. „Die Umwandlung der Bildung in ein Geschäft war ein gigantischer Misserfolg“, sagt Rojas.

Denn selbst wenn einmal ein armes Kind die Zulassung erhalten sollte, heißt das noch lange nicht, dass es auch an die Uni gelangt. Die Studiengebühren in Chile sind hoch und Stipendien selten. „Das mit der Chancengleichheit ist eine große Lüge“, sagt die Studentin Valentina Rozas. „Meine Uni, die ‚Católica‘ in Santiago, ist eine der renommiertesten des Landes. Sie ist, obwohl staatlich, auch eine der teuersten. In der ganzen Zeit hier habe ich höchstens zwei Kommilitonen getroffen, die aus armen Familien stammen. Man muss schon ein Supertalent sein, um an ein Stipendium zu kommen.“

Die Ungleichheit beginnt früh. Denn verantwortlich für die öffentlichen Schulen sind in Chile die Kommunen. Manch arme Landgemeinde aber ist mit dieser Aufgabe überfordert. Während sich der Nachwuchs im Villenvorort am Schulcomputer für die Anforderungen der Moderne rüstet, haben viele Dörfer haben nicht einmal eine Lehrerin für jede Altersstufe. „Unser System gründet auf der Annahme, dass viele Menschen nur eine Minimalbildung brauchen – weil sie als Arbeiter am Fließband stehen oder Pakete packen“, sagt Rojas. „Für eine moderne Wissensgesellschaft ist es völlig ungeeignet.“

Die Pingüinos sehen das ähnlich. Sie fordern ein umfassendes Umdenken. Zum einen soll Bildung nicht am Geld scheitern. Arme sollen kostenlos zur Schule fahren können und dort eine Gratis-Mahlzeit erhalten. Parallel dazu aber wollen die Schüler strukturelle Reformen. Sie fordern einen Unterricht, der sie fürs 21. Jahrhundert rüstet – selbst wenn sie auf dem Dorf wohnen und nicht im Villenviertel der Großstadt.

Es gibt sogar Stimmen, die in all den Demos, Schlachtrufen und Fernsehinterviews mehr sehen als das Streiten für mehr Fairness im Klassenraum. „An diesem desolaten Bildungssystem zeigen sich die Umverteilungsprobleme der chilenischen Gesellschaft“, sagt etwa Rojas. Wie umfassend die Regierung ihr Bildungssystem reformiert, gilt vielen als Gradmesser, wie ernsthaft sie das drängendste Problem des Landes angehen will: das Auseinanderfallen der Gesellschaft in Arm und Reich.

Der Zeitpunkt für eine solche Signalpolitik ist günstig. Chiles Sozialprodukt wächst derzeit jährlich um 5 bis 6 Prozent. Eine florierende Kupferindustrie spült Überschüsse in die Firmen- und Staatskassen. Doch vom neuen Wohlstand profitiert vor allem die Mittel- und Oberschicht. Die soziale Kluft vergrößert sich. So wächst der Unmut, warum die Regierung nicht mehr für die Armen tut. Schließlich erhält sie einen Teil der Kupfer-Einkünfte – ein Milliardengeschäft angesichts des rekordhohen Weltmarktpreises.

Vor diesem Hintergrund werde die Revolution der Pinguine auch von den Politikern „als historische Chance begriffen“, sagt Rojas. Die neue sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet könnte mit Reformen jene Kritiker beschwichtigen, die ihrer Partei vorwerfen, „unter dem Label“ sozialistisch“ eine im Grunde konservative Politik zu betreiben“, wie es Enrique Pérez, einer der renommiertesten Menschenrechtler Chiles, formuliert. Laut Rojas wäre dies die einzige Chance, das Land für die Zukunft zu rüsten: „Ohne Aufwertung der Bildung und eine grundlegende Reform des Systems ist ein Entwicklungssprung Chiles nicht zu schaffen.“

Dieses Anliegen passt in den Zeitgeist: Chile präsentiert sich dem Ausland gerne als südamerikanisches Vorzeigeland, das für seine Armen Stromleitungen verlegt, Kranke auf Staatskosten heilt und abgelegenen Wüstendörfern Solarheizungen spendiert. Stolz schreibt man, dass die Kindersterblichkeit beinahe auf westeuropäisches Niveau gesunken ist.

Zudem hegen die Staatsoberen ehrgeizige Pläne. Chile möchte in die OECD. Schon jetzt will es sich als würdig erweisen, in diesen illustren Kreis der Industrienationen aufgenommen zu werden – etwa indem es in diesem Jahr an der Pisa-Studie teilnimmt. Sollte das Ergebnis derart schlecht ausfallen wie derzeit befürchtet, könnte die Regierung dann zumindest auf ihren guten Willen verweisen.

Pinguin-Vorkämpfer wie Barrera sind dennoch skeptisch. „Einerseits sind die Proteste ein großer Erfolg“, sagt er. Immerhin hat die Regierung eine Reformkommission eingesetzt, in der auch Schüler und Studenten sitzen. Im September will das Gremium konkrete Pläne vorlegen. Erst vor ein paar Tagen hat die Regierung zudem verkündet, Extragelder für Problemschulen bereitzustellen. „Aber ob das reicht, ob das nicht doch nur Herumdoktern an Symptomen wird, muss sich erst noch zeigen“, sagt Barrera.

Andere sind da optimistischer. Selbst wenn die Regierung dann doch nur Reförmchen wagen sollte statt des großen Wurfs, bleibt die Bewegung ein Erfolg, meint Pérez: „Chile ist ein Land, das sich in Gedenktagen bewegt. Selbst wenn die Schüler jetzt nicht alles erreichen: Am 1. Jahrestag der Revolte gehen sie wieder auf die Straße. Der Wandel lässt sich bremsen, aber nicht aufhalten.“