stummer bär zu besuch von JOACHIM SCHULZ
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Ob er ein Schweigegelübde abgelegt hat? Ich habe nichts gegen unangekündigte Besuche, auch nicht am Sonntag, auch nicht, wenn ich gerade dabei bin, über dem Sofa ein neues Regalbrett an die Wohnzimmerwand zu dübeln, und schon gar nicht, wenn es sich bei dem Besucher um Theo handelt. Theo ist einer meiner engsten und ältesten Freunde, ich kenne ihn …, ach, ich weiß nicht: Seit Ewigkeiten, seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, seitdem wir uns auf dem Spielplatz hinter der Markuskirche gegenseitig Plastikschaufeln auf den Kopf gehauen haben, und selbstverständlich könnte er mich auch nachts um halb vier aus dem Bett werfen, wenn er jemanden brauchte, der ihm zuhörte, einen Rat gäbe oder sonst wie aus der Patsche hülfe.

Aber er spricht nicht, kein Sterbenswörtchen. Er klingelt, und als ich die Tür öffne und rufe: „Theo, wie schön, komm rein!“, marschiert er wortlos an mir vorbei in den Flur, ignoriert meine ausgebreiteten Arme und sagt nicht einmal Guten Tag! „Theo? Ist was?“, sage ich, während er seine Jacke an die Garderobe hängt und die Schuhe abstreift. Mein alter Freund Theo aber schaut mich nicht an, schlurft ins Wohnzimmer, legt sich aufs Sofa und breitet eine Wolldecke über sich aus. Wie ein Bär, der endlich eine Höhle gefunden hat und nun seinen Winterschlaf halten will.

Ich betrachte ihn verdutzt und kratze mich am Kinn. „Ich mach mal Kaffee“, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Immerhin richtet sich Theo auf, als ich ihm kurz darauf einen dampfenden Becher hinstelle. Er gießt sich das kochend heiße Gebräu zügig in den Schlund und brummelt etwas, das „Gut!“ heißen könnte. Dann legt er sich wieder hin. „Theo, kann ich irgendwas für dich tun?“, frage ich: „Gibt’s ein Problem, das du besprechen möchtest?“ Doch Theo kuckt an mir vorbei, schaut durchs Fenster in den Himmel und sieht den Wolken beim Dahinziehen zu.

„Also schön!“, schnaufe ich und stehe auf. Wenn er sich nur wie ein stummer Bär auf dem Sofa herumfläzen will, brauche ich mich auch nicht mit einer halb fertiggestellten Heimwerkerarbeit abzufinden. Also klettere ich auf einen Stuhl, hantiere, über Theo gebeugt, mit einem heulenden Akkuschrauber und stapfe schließlich sogar auf den Sofapolstern herum, um das Brett anzubringen. Theo jedoch lässt sich davon nicht stören: Er schaut in den Himmel, liest den Klappentext eines Buches, das neben dem Sofa auf dem Boden liegt, gähnt und schläft dann, obwohl ich es kaum glauben kann, ein.

Als ich fertig bin, wacht er wieder auf. Er streckt sich, grunzt genüsslich und lächelt mich an. Auch kann er wieder sprechen. „Herrlich!“, schnauft er: „Formidabler Stärkungsschlummer! Aber jetzt“, fährt er fort, „wird es Zeit.“ Er steht auf und umarmt mich. „Danke für den schönen Nachmittag!“, sagt er und strebt Richtung Wohnungstür.

„Theo“, sage ich, ihm hinterhertapsend, „hast du Sorgen, Ärger, Liebeskummer?“ Er freilich schaut mich amüsiert an. „Ich?“, sagt er, während er sich die Schuhe anzieht: „Nicht die Bohne! Wie kommst du bloß darauf?!“ Und dann spaziert er, ohne eine Antwort abzuwarten, davon – mein alter Freund Theo, den ich beinahe genauso gut kenne wie mich selbst.