Präsens oder Präteritum

Günter Grass und die Waffen-SS: Schweigen, um den Schreibimpuls nicht preiszugeben?

„‚Warum erst jetzt?‘, sagte jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder … Weil ich wie damals, als der Schrei überm Wasser lag, schreien wollte, aber nicht konnte … Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen … Weil jetzt erst …“ Günter Grass, „Im Krebsgang“

Dass Günter Grass als 17-Jähriger bei der Waffen-SS war, scheinen ihm Literaturkritiker und Kollegen weitgehend zu verzeihen. Stattdessen wird allenthalben über die Motive gerätselt, die Grass so lange haben schweigen lassen. War es die Scham über die eigene Verstrickung? Hat er tatsächlich erst auf den Literaturnobelpreis gewartet? Oder wollte er den Knalleffekt des Geständnisses als Werbeeffekt für sein Erinnerungsbuch „Beim Häuten einer Zwiebel“ aufsparen, das dieser Tage erscheint? All diese Erklärungen klingen denkbar dürftig für ein sechs Jahrzehnte dauerndes, beharrliches Schweigen, zumal bei einem moralisch denkenden Menschen wie Grass.

Auch der Autor selbst hat keine befriedigende Antwort parat. Außer der, er habe sich seine Vergangenheit „nach dem Krieg aus nachwachsender Scham“ selbst verschweigen wollen, wie er in seiner Autobiografie erklärt. Also eher ein Selbstbetrug denn ein Betrug der Öffentlichkeit – und damit deutet sich ein Motiv an, das mit dem Schaffensprozess des Autors zu tun hat. Erweitern wir die Erklärungen also um ein Gedankenspiel, das naheliegend ist, weil es eine künstlerische Motivation in den Mittelpunkt rückt: die Angst des Schriftstellers, nicht mehr schreiben zu können, sobald er sein Geheimnis gelüftet hat – oder wenigstens nicht mehr so gut.

Derartige mehr oder weniger bewusste Glaubenssätze sind bei nicht wenigen Autoren verankert. Der eine fürchtet, nicht mehr kreativ sein zu können, sobald er aufhört zu trinken; der nächste, wenn er in einer Beziehung ist; es gibt Autoren, die es ablehnen, sich in Therapie zu begeben, weil sie Angst haben, sich anschließend zu gut zu kennen. Ein Teil des Schreibprozesses entzieht sich immer der Kontrolle des Autors; Grass selbst hat sich in Bezug auf seine Danziger Trilogie als „bloßes Schreibwerkzeug“ deklariert – ein wissentliches Hantieren mit dem Unbewussten.

Die biografische Lücke (bzw. Lüge) ist Teil der Persönlichkeit seines schreibenden Ich geworden – einer Persönlichkeit, die ohne diese Lücke nicht mehr denkbar war. Er hat so lange um die Leerstelle drum herumgeschrieben, bis sie ein konstituierendes Element seines Schreibens war. Grass’ Schweigen lag also in der Angst begründet, den Schreibimpuls zu verlieren, sobald er das Tabu benenne. Dass er dies nun getan hat, muss dem nicht widersprechen; im Gegenteil, mit seinem Geständnis hat Grass diesen Schreibimpuls bis zuletzt genutzt, noch einmal das Letzte aus dem Schweigen herausgeholt. Implizit räumt er dies sogar ein, wenn er in der FAZ zu seinem kommenden Buch erklärt: „Mein Schweigen über all die Jahre zählt zu den Gründen, warum ich dieses Buch geschrieben habe. Das musste raus, endlich.“ – Was umgekehrt auch heißt, dass er schweigen musste, um dieses Buch schreiben zu können.

Es wäre interessant zu wissen, wie Grass’ Werk aussähe, wenn er sich seiner Leiche im Keller ein paar Jahrzehnte früher entledigt hätte. Vermutlich hätte er andere Themen gewählt, vielleicht wäre er weniger produktiv gewesen – schlechter hätte das Werk nicht unbedingt ausfallen müssen. Derartiges Entweder-oder-Denken existiert nur in den Köpfen von Künstlern und Kreativen, die das eigene Schreiben mystifizieren. Die wie Kafka glauben, sie müssten einsam (und ohne feste Bindung) sein, um zu schreiben, oder die – wie im vorliegenden Gedankenspiel – befürchten, zu reden hieße literarisch zu verstummen. Aber selbst wenn es so wäre, würde immer noch die Frage sich stellen, was wichtiger ist: wahrhaftig zu leben oder ein guter und produktiver Autor sein? Ein Leben im Präsens oder eines für das epische Präteritum?

PHILIP MEINHOLD