„Wirtschaft muss über Bedarf einstellen“

AUSBILDUNGSKRISE Der Berufsbildungsforscher Martin Baethge appelliert an Industrie und Bundesländer, ihre Ausbildung qualitativ und quantitativ zu revolutionieren. Der demografische Wandel beginnt – jetzt

■ 72, ist der maßgebliche deutsche Berufsbildungsforscher. Er ist Chef des Soziologischen Forschungsinstituts der Uni Göttingen.

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER

taz: Herr Baethge, vor allem die Exportwirtschaft hat die Finanzkrise offenbar gut überstanden und erlebt einen ungeahnten Boom – trotzdem steigt die Jugendarbeitslosigkeit.

Martin Baethge: Zunächst muss man feststellen, dass 2009 das Lehrstellenangebot krisenbedingt um 10 Prozent gegenüber 2007 zurückgegangen ist und die Verluste nicht wettgemacht sind. Der Lehrstellenmarkt reagiert immer mit Verzögerung auf die anziehende Konjunktur. Das Schlechte daran ist, dass sich dahinter strukturelle Probleme von Angebot und Nachfrage verbergen. Und das, wo der demografische Wandel da ist.

Welches Problem ist das?

Erstens ist das Angebot an Lehrstellen in vielen Berufsbereichen, auch in den Kernsektoren der deutschen Industrie, geringer als die Nachfrage. Wir beobachten eine Unterdeckung an Ausbildungsplätzen im Maschinen- und Fahrzeugbau sowie in der Elektrotechnik von 10 Prozent. Das Minus tut weh, denn es handelt sich um qualitativ hochwertige Ausbildungsberufe, die weniger besetzt werden.

Das zweite Problem …

… ist genauso schmerzhaft. Die deutsche Wirtschaft baut auf die facharbeitergestützte Qualitätsproduktion – das ist ihr Markenzeichen, sonst würde sie international nicht so gut dastehen. Das bringt aber stetig wachsende kognitive Anforderungen an die Bewerber mit sich, denn es geht um wissensbasierte Prozesse.

Was heißt das?

Die Jugendlichen müssen immer mehr draufhaben, um die hochmodernen Maschinen verstehen zu können und mit den Kommunikationsformen umgehen zu können. Das überfordert viele Jugendliche. Hauptschüler fallen da inzwischen fast völlig raus. Viele Betriebe wollen oder können mit denen nichts mehr anfangen. Eine wichtige Quelle der Jugendarbeitslosigkeit – vor allem bei jungen Männern.

Aber gibt es nicht andere Sektoren, wo die Bildungsverlierer noch Jobs finden könnten?

Jobs ja – aber kaum Ausbildungsplätze. Dort nämlich, wo das Gros der Lehrstellen zu finden ist, in den Dienstleitungen, bestehen ebenso große Lehrstellenlücken, also bei den Büroberufen, im Einzel- und Großhandel sowie im Gastgewerbe, hier wird anteilig wenig ausgebildet.

Sie meinen, die einen Jobs sind zu komplex, die anderen zu simpel für die Jugendlichen?

Es ist weniger eine Frage der Jugendlichen. Im Gastgewerbe haben die Beschäftigten zu 40 Prozent keine Lehre hinter sich, die Betriebe arbeiten hier viel mit gering qualifizierten und Aushilfskräften. Bei den Verkäuferinnen ist es ähnlich.

Steckt darin nicht auch eine gute Nachricht: Es wird weiter Jobs für Niedrigqualifizierte geben?

„Das A und O ist, dass wir weniger Bildungsverlierer produzieren“

MARTIN BAETHGE

Das ist richtig. Wenn man aber eine volkswirtschaftliche Perspektive einnimmt, kann man sich darüber überhaupt nicht freuen. Wir steuern auf ein Riesenproblem zu, denn im Jahr 2025 haben wir 15 bis 17 Prozent Schulabgänger weniger. Dann werden nur noch Großunternehmen ihren Fachkräftebedarf decken können. Die Klein- und Mittelbetriebe, die das Gros ausbilden, haben dann aber bereits massive Nachwuchsprobleme. Das bedeutet, wir müssen jedes Potenzial so weit entwickeln, wie es nur geht. Darauf hat übrigens auch jeder Jugendliche ganz subjektiv ein Anrecht: dass man alle seine Talente erkennt und herausbildet.

Und wie kriegt man das hin?

Das A und O ist, dass wir in der Schule weniger Bildungsverlierer produzieren. Das ist die Achillesferse unseres Bildungssystems. Zudem müssen wir einfach mehr Ausbildungsplätze anbieten, die Industrie genau wie die Länder bei den Gesundheitsberufen. Sonst forcieren wir selbst unseren Fachkräftemangel. Wir müssen heute vorsorgen für die Zeit in fünf bis zehn Jahren, wenn die Zahl der Arbeitskräfte stark schrumpft. Und drittens müssen wir den Übergang von der Schule in die Ausbildung besser hinkriegen …

weil da zu viele durch den Rost fallen?

Genau, ein Drittel des Ausbildungsmarktes besteht inzwischen aus dem sogenannten Übergangssystem. Das bedeutet, dass wir fast 400.000 Jugendliche in einem hochkomplizierten und auch für uns Forscher oft schwer zu durchschauenden Maßnahmengeflecht parken, ohne dass sie Abschlüsse oder arbeitsmarktrelevante Zertifikate erwerben könnten. Das darf man eigentlich nicht machen.