Grüße aus Berlusconistan

SCHLAGLOCH VON GEORG SEESSLEN Die Ära des Cavalliere neigt sich dem Ende zu. Doch was heißt das für Italien?

■ ist Publizist und Filmkritiker und lebt in Kaufbeuren. Er hat über 20 Bücher geschrieben, meist über Western, Horror, Science-Fiction und über Starregisseure (Hitchcock, Kubrick, Spielberg, Lynch, Scorsese, Tarantino).

Alles ist fast wie immer: Die Sonne scheint, der Cappuccino schmeckt und ist, zusammen mit einer Focaccia für 2,20 Euro, noch erschwinglich; man redet über Fußball und Kochrezepte und die Politik, ach: Lasciamo perdere.

Die Zonen des Mangels freilich bewegen sich immer näher an die Strände heran. Man sieht es zum Beispiel daran, dass Leute, die sich noch vor ein, zwei Jahren wahrlich zu gut dafür gewesen wären, nun bei den teutonischen Discountern einkaufen. Lidl-Tüten, offenbar haltbarer als die der einheimischen Coop- und Dico-Läden, wurden zu bevorzugten Transportmitteln bei den sozialen Verlierern.

Der Berlusconi-Staat ist bei der Rate dessen, was von den Steuern für das Soziale, für Familien und Kinder zurückgegeben wird, weit unten im europäischen Vergleich. Hier gibt es Kinder, die Hunger haben, und man kann, wenn man denn will, gleich hinter den Promenaden und Einkaufsgassen die andere Seite unserer fröhlich-bunten Idealwelt im Süden sehen: Italien kann sehr kalt sein.

Doch die Ära Berlusconi neigt sich dem Ende zu. Die Zeitungen schreiben nicht mehr in erster Linie zu den neuen Sottisen des Cavalliere oder den Ungeheuerlichkeiten seiner Minister, die sich brüsten, Sarkozy habe seine miese Politik gegen die Roma bei ihnen abgeschaut. Sondern darüber, wie Berlusconi bei der letzten Pressekonferenz gewirkt habe: „müde und gereizt“, „unausgeschlafen“, „zerknittert“ und immer wieder „erschöpft“. Vielleicht sehnt man sich auch nach einem menschlichen Ende, einem ermatteten Wegtreten des Symbols dieser langen, destruktiven Phase der italienischen Nachkriegsgeschichte. Aber das ganze Land ist: müde und gereizt.

Hysterie und Selbstmitleid

Für viele italienische Teenager ist Berlusconismus der Normalzustand. Die, die das okay finden, reden nicht darüber. Die es zum Kotzen finden, verzweifeln an ihrer Gesellschaft. Die kleinen und großen Kämpfe gegen den Berlusconismus, das Scheitern an einem, der mit offensichtlicher Zustimmung eines Großteils der Wähler lügt, betrügt und manipuliert (und das sind noch die harmloseren Vorwürfe), das alles hat viel Kraft gekostet. Daher auch diese kulturelle Lähmung, die so augenfällig ist.

Die einst beneidenswerte publizistische Vielfalt ist der hysterischen Einfalt gewichen, Promis und Quatsch; wichtige Kulturzeitschriften kämpfen ums Überleben oder suchen, wie Alphabet, bei einem Neustart verlorene Identität. Aber was soll man noch sagen nach all diesen Jahren? Auch das italienische Kino badet in Selbstmitleid und, immerhin, Menschlichkeit, wenn es nicht ohnehin um Beziehungsklamotten oder Mittelstands-Feelgood-Movies geht.

Eine neue Sprache für den Zorn

Alles, was man gegen Berlusconi und den Berlusconismus sagen, schreiben, bilden, filmen, spielen konnte, hat man schon vor Jahren getan, alle Witze über ihn und die Seinen sind lange gemacht. Die Opposition, so scheint es, hat nicht nur keine großen Führer, sie hat auch keine große Sprache und keine großen Bilder. Der Zorn wird seine Ohnmacht nicht los.

Im nach-berlusconischen Italien wird man sich mit einem Wandel in kleinen Schritten, vor allem mit der Suche nach einer neuen politischen Sprache abfinden müssen. Aber dieser Wandel kann sich nur auf eine fragile Union von Menschen mit gutem Willen stützen. Von einer „pluralen Linken“ träumen die Mutigsten. Die meisten anderen wären schon zufrieden, wenn man den Berlusconismus sacht zügeln könnte: ein wenig mehr Demokratie, ein bisschen weniger Korruption, etwas soziales Mitgefühl, bitte.

Berlusconismus ist keine Regierungs-, sondern eine Gesellschaftsform. Und Berlusconi selbst ist nicht allein deshalb so ein prächtiger Repräsentant, weil Italien diese Typen liebt, die man anderswo ganz einfach als „Arschloch“ bezeichnen würde, weil sie mit ihrer blendenden Unverschämtheit mit mehr oder weniger allem durchkommen. Berlusconi, das ist vor allem die Abwesenheit einer politischen Persönlichkeit, die seinem Land ein Projekt abverlangen würde, von einer Moral ganz zu schweigen. Er sorgt für sich selbst und spielt sich auf. Aber in Wirklichkeit ist das Land sich selbst überlassen.

Das Auseinanderbrechen der berlusconistischen Allianz, das man sowohl psychologisch (einer wie Berlusconi kann keinen Nachfolger aufbauen) wie politisch interpretieren kann (die vom neoliberal-mafiösen Berlusconi angerichtete Malaise lässt den neofaschistisch-skrupellosen Fini als Alternative erscheinen), erzeugt ein fatales Gefühl. Man möchte es kaum glauben, aber es kann wirklich noch schlimmer werden.

Drei Arten, ein Arschloch zu sein

Berlusconis Dreiecksallianz ist wohl nicht mehr zu retten. Nach ihm kann es aber durchaus noch schlimmer werden

Die drei Alliierten des Berlusconismus repräsentieren die verschiedenen Varianten der postbürgerlichen Interessenlagen (man könnte auch, ohne Illusion, sagen: drei Arten, ein Arschloch zu sein), einander ergänzend und partiell widersprechend, aber gut aufeinander abgestimmt an den rhetorischen und ikonografischen Schnittstellen. Diese Allianz wäre eigentlich perfekt, sie könnte mit ein paar Akzentverschiebungen ewig so weitermachen, denn sie repräsentiert die offensichtlichen Impulse, Interessen und Phantasmen des sich immer weiter auflösenden und daher immer breiteren Mittelstands.

Nun freilich ist Berlusconi selbst das Problem des Berlusconismus geworden. Die Balance der Dreiecksallianz ist wohl nicht zu retten. Wenn er weg ist, könnte allerlei passieren: von einer Vorherrschaft der Protofaschisten über ein demokratisches Bündnis, das sich beim Trümmeraufräumen weiter erschöpfen müsste, bis zu einer Offenbarung der wahren sozialen Verbrechen in der Berlusconi-Ära. Man weiß nicht so recht, wovor man sich mehr fürchten muss.

Jedenfalls wird Berlusconis Abgang, so oder so, nur ein kurzes Freudenfest folgen. Danach wird Italien, noch im besten Fall, nach vielen verlorenen Jahren die schwere Arbeit an einer sozialen Demokratie wieder aufnehmen müssen. Vielleicht wird es dann auch wieder Spaß machen, am Strand zum Cappuccino „Il Manifesto“ zu lesen.

GEORG SEESSLEN