Schlammschlacht um die neue Verfassung

TÜRKEI Am 12. September entscheiden die türkischen Wähler in einem Referendum über eine Reform der Staatsordnung. Regierung und Opposition sehen darin eine Machtprobe. Und kämpfen mit harten Bandagen

■  Neben so unstrittigen Neuerungen wie der Einführung eines Ombudsmannes oder der Ausweitung eines informationellen Selbstbestimmungsrechts und der Präzisierung der Rechte der Kinder geht es hauptsächlich um Veränderungen in der Justiz. Die Militärgerichtsbarkeit wird eingeschränkt, die Immunität der Putschisten von 1980 aufgehoben, Militärs sollen vor Zivilgerichten angeklagt werden können. Die Zusammensetzung und Wahl des Verfassungsgerichts und des Obersten Justizrates wird neu geregelt. Letztendlich bekommen Parlament und Regierung damit einen größeren Einfluss auf die obersten Gerichte. Andere Punkte bleiben dagegen unberücksichtigt. Parteien werden auch zukünftig von der Verfassung kaum geschützt und können weiterhin leicht verboten werden. Die zehn Prozent Hürde für den Einzug ins Parlament wird nicht gesenkt. Die Rechte der Minderheiten werden nicht gestärkt. (jg)

ISTANBUL taz | „Wenn du Ja sagt, rettest du Recep Bey, wenn du Nein sagst, rettest du das Land“. Unter diesem Slogan versammelten sich mehr als 100.000 Anhänger des Oppositionsführers Kemal Kilicdaroglu in Istanbul, um für ein Nein im bevorstehenden Verfassungsreferendum zu trommeln. Die Großkundgebung in Istanbul Ende August war der Höhepunkt in der Kampagne der Opposition, durch die eine Reform der Verfassung, über die die Wähler am 12. September abstimmen werden, gestoppt werden soll.

Der Kampf um die Verfassungsreform wird mit harten Bandagen geführt. Für Kilicdaroglu, der die Parteiführung der oppositionellen CHP erst vor wenigen Monaten übernommen hat, ist die Abstimmung der erste Härtetest als Spitzenpolitiker, der darüber entscheidet, ob er bei den Wahlen im kommenden Jahr eine Chance gegen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat.

Kemal Bey, wie Erdogan ihn bei seinen Auftritten nennt, hält sich in seiner Rede in Istanbul erst gar nicht bei den Details der Verfassungsänderung auf. Woher der Regierungschef das Geld für seine vier Villen habe, will er wissen. Weil Erdogan sich auch nach acht Jahren als Regierungschef noch gerne als Mann aus dem Volk inszeniert, ruft Kilicdaroglu in die Mikrofone: „Wenn Erdogan behauptet, er sei einer von euch, wieso ist er dann Dollarmilliardär und ihr seid immer noch arme Schlucker?“ Die Menge tobt und der Oppositionspolitiker hat bewiesen, dass er in der Lage ist, Leute mitzureißen.

Aber auch Erdogan teilt in seiner Pro-Kampagne jeden Tag heftig aus. Aus seiner Sicht ist die Verfassungsreform eine Zäsur, die für die Türkei endlich das demokratische Zeitalter einläutet. Sein Europaminister Egeman Bagis spricht aus, was Erdogan und seine Regierung von der Opposition und dem Nein-Lager halten: „Wer zur Verfassungsänderung nicht Ja sagt, ist entweder verrückt oder ein Vaterlandsverräter“, ließ er verlauten. Das musste in den letzten Tagen auch der einst mächtige Industriellenverband Tüsiad erfahren, in dem vor allem das AKP-skeptische Istanbuler Großkapital organisiert ist. Weil der Verband erklärte, er sei gegenüber der Abstimmung neutral, wurden die Vorstandsleute von Erdogan mit der Drohung abgekanzelt: „Wer heute keine Stellung nimmt, wird morgen keine Rolle mehr spielen.“ Nach den letzten Meinungsumfragen liegen das Ja- und das Nein-Lager noch immer dicht beieinander, auch wenn „Ja“ einen leichten Vorteil hat.

Die Spannung über das Referendum spaltet das Land erneut entlang der Fronten des säkularen Lagers und der islamisch grundierten Regierung der AKP. Nach bewährtem Muster versucht die AKP, auf dem Land Unterstützung zu gewinnen, indem sie Gebrauchsgüter an die Armen verteilt. Die skurrilste Szene spielte sich dabei in Gaziantep ab, wo bei 45 Grad im Schatten Kohlen für den Winter verteilt wurden. JÜRGEN GOTTSCHLICH