Ein Objekt verschwindet

Hervé Graumann untersucht, wie Serialität und Ornamente das Auge austricksen. Heute eröffnet in der Villa Oppenheim eine Einzelausstellung des Schweizer Künstlers

Der Meisterkoch braucht Zutaten. Hervé Graumann bevorzugt in der Regel Unverdauliches, mal abgesehen von ein paar Lakritzschnecken, Reis oder Smarties. Auf seinen Streifzügen durch Ikea-Häuser, türkische Läden, Asia-Shops und Supermärkte sammelt er ein, was ihn inspiriert. Aus der Fülle an Zutaten hat der Schweizer Künstler in der Villa Oppenheim Berliner Unikate „komponiert“: skulpturale Teppiche, Reliefs, Objektbilder, wie immer man die sich zigfach wiederholenden Ornament-Module nennen möchte. Heute Abend eröffnet die Galerie für Gegenwartskunst unter dem Titel „Overwriting reality“ Graumanns Einzelausstellung.

Vierzig schwarze Eimer stehen zu fünft in je acht Reihen auf einem weißen Vorleger stramm. Wie Eimer-Soldaten. Und dann wird es immer kleiner, bunter und detailversessener: Schuhlöffel, Spülbürste, Plastik-Gerbera, Taschenlampe, Schwamm, Pappteller, Lockenwickler, Brezel, Wattebausch, Plastikbecher, Silberknäuel, Wäscheklammern. Alles penibel, vor allem kunstvoll ineinandergelegt, angelehnt, drangehängt und aufgesteckt. Vierzigmal das gleiche Muster, fein verwoben mit in Ketten gelegten Videokassetten, die von Haarshampoo in Minifläschchen eskortiert werden. Doch von wegen immer das Gleiche: Die schwarz-weiß-rote Eimer-Armee zieht den Betrachter in ein Labyrinth der nur scheinbar geklonten Vielfalt. Wer herumgeht und die Perspektive wechselt, begibt sich auf visuelle Entdeckungstour.

Seit sieben Jahren pflegt Graumann, Jahrgang 1963, mit den Banalitäten der modernen Massenproduktion auf diese Weise künstlerischen Umgang. Wer dahinter eine Kritik am Überfluss vermutet, der irrt. „Meine Arbeiten sind ganz ohne politischen Inhalt“, sagt er. Aber immerhin sei das doch eine gute Möglichkeit, mit dem Überfluss umzugehen, erklärt er in seinem sympathischen Genfer Französisch. Für Graumann, der sich an seinem „amüsanten Spiel“ auf kindliche Art begeistert, ist es eine „Art Malerei“. Was letztlich dabei herauskomme, sei jedoch offen, denn die Objekte, Form und Farbe interagieren miteinander: „Ein schnelles Spiel. Ja, wie Kochen, nur dass ich dazu keine Zeit habe und lieber Installationen mache.“

Wer will, kann sich Graumanns „halluzinatorisch wirkender Bodenornamentik“ über den Bauch nähern, ganz emotional und sinnlich, wie bei einem guten Essen. Entweder es schmeckt oder es schmeckt nicht. Wer es lieber historisch mag, muss nach dem Rezept fragen. Spätestens hier rückt das Computerzeitalter in den Vordergrund. Graumann, der an der Genfer „Ecole Supérieure de l’Art Visuel“ anwendungsbezogene Informatik unterrichtet, ist fasziniert von der numerischen Welt und ihren Möglichkeiten: Bilder, Texte und Töne können in digitale Informationen verwandelt und damit endlos geklont werden. Auf künstlerischer Ebene hat das bei ihm die Idee des Duplizierens provoziert. So wie bei seinen Bodenteppichen, wo er immer gleiche Mustersequenzen aneinanderreiht. Ist wirklich alles gleich? „Das ist eine Illusion“, sagt er. „In der Realität gibt es nichts Gleiches.“ Nur den Code könne man kopieren, nicht das Bild, das der Code evoziert.

Dass nichts wirklich gleich ist, „beweisen“ Graumanns Fotoinstallationen. Sie fixieren Ausschnitte seiner skulpturalen Teppiche und erwecken, anders als die Installation am Boden, den Eindruck von Unendlichkeit. Dabei offenbaren sie „das Doppelspiel zwischen dem repetitiven Effekt und dem Versteckspiel“: Wer genau hinschaut, bemerkt, dass einige Objekte durch die Perspektive verschwinden. Je mehr man das Gefühl hat, alles sei gleich, desto größer werden die Unterschiede. „Eine paradoxe Wirkung.“ Und das Verrückte dabei: „Das Spiel provoziere nicht ich, sondern die Realität.“

ANNETTE SIEMER

Bis 1. Oktober, Di.–Fr. 10–17, Sa. 11–17 Uhr, Villa Oppenheim, Schloßstr. 55